Gränzbote

Mesale Tolus Vater hofft auf Milde

Der Journalist Günter Wallraff will in Istanbul den Tolu-Prozess verfolgen

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NEU-ULM (mö) - Heute wird in Istanbul der Prozess gegen die Neu-Ulmer Journalist­in und Übersetzer­in Mesale Tolu fortgesetz­t. Vor dem zweiten Tag des Verfahrens sagte ihr Vater Ali Riza Tolu zur „Schwäbisch­en Zeitung“, er sei „optimistis­ch“, dass seine Tochter nach mehr als sieben Monaten in Haft freikomme.

ULM - Der Enthüllung­sjournalis­t Günter Wallraff (Foto: dpa) will am Montag im Prozess gegen die aus Ulm stammende Journalist­in und Übersetzer­in Mesale Tolu teilnehmen. Unter Türkischst­ämmigen ist Wallraff bekannt und beliebt, seit er in die Rolle des Arbeiters Ali schlüpfte und 1985 das Buch „Ganz unten“veröffentl­ichte. Der 75-Jährige will seine Popularitä­t nutzen, um seinen Anhängern die Augen zu öffnen, wenn er dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan vorwirft, eine islamo-faschistis­che Diktatur in der Türkei zu installier­en, wie er im Gespräch mit Ludger Möllers sagt.

Herr Wallraff, was erwarten Sie vom nächsten Prozesster­min gegen Mesale Tolu an diesem Montag?

Der türkische Präsident Erdogan ist aus meiner Sicht beratungsr­esistent und komplett unberechen­bar. Zu hoffen ist, dass Mesale Tolu am Montag freigelass­en wird. Aber ich befürchte, dass sie weiterhin als Geisel in der Hand Erdogans bleibt.

Wieso fahren Sie nach Istanbul, wieso setzen Sie sich für Tolu jetzt ein?

Ich fühle noch eine besondere Verantwort­ung und persönlich­e Beziehung zur türkischst­ämmigen Bevölkerun­g, seit ich in den 1980er-Jahren über zwei Jahre in der Rolle des türkischen Leiharbeit­ers Ali extreme Ausbeutung, Demütigung­en und Rassismus zusammen mit meinen türkischen Kollegen und späteren Freunden erlebt und erlitten habe. So werde ich von vielen hier lebenden Türken als einer der Ihren angesehen.

„Ganz unten“verpflicht­et heute? Sie bis

Ja. Türkische Einwandere­r, ganze Familien sagen mir: „Der Ali, das bin ich, das sind wir, das ist mein Buch.“Es kam vor, dass sie über das Buch „Ganz unten“Deutsch gelernt haben. Auch wurde ich von Familien eingeladen, durch die ein Riss ging und Erdogan-Befürworte­r und -Kritiker zerstritte­n waren. Da habe ich mich als eine Art Mediator und Vermittler versucht.

Was sagen Sie den Türken?

Die Tragik ist, dass allzu viele in dem Despoten eine Art Heilsbring­er sehen, weil er zum Beispiel auch deutsche Politiker das Fürchten lehrt und ihrem eigenen, verletzten Stolz Geltung verschafft. Wenn ich ihnen dann sage, dass er dabei ist, eine islamo-faschistis­che Diktatur in der Türkei zu installier­en, dass er die Presse gleichgesc­haltet und über 60 000 politische Gefangene eingekerke­rt hat, dann diskutiere­n wir doch recht kontrovers. Aber das sehe ich ja als meine Aufgabe an, ihnen dann auch zuzusetzen.

Wie engagieren Sie sich denn persönlich für die Pressefrei­heit in der Türkei?

Meinen 75. Geburtstag im Oktober habe ich zum Anlass genommen, in die Türkei zu reisen und einen Preis für kritischen Journalism­us, der nach mir benannt ist, an Ahmet Sik, einen türkischen Kollegen, zu verleihen. Er arbeitete für die regierungs­kritische Zeitung „Cumhuriyet“. Mehrere Mitarbeite­r der Zeitung, deren früherer Chefredakt­eur Can Dündar inzwischen in Berlin im Exil lebt, sitzen weiter in Untersuchu­ngshaft, darunter auch Ahmet Sik. Ich habe den Preis und die Prämie an Siks Ehefrau übergeben. Sik wird seit fast einem Jahr erneut wegen seiner kritischen Veröffentl­ichungen unter abstrusest­en Vorwänden ohne Anklagesch­rift im Gefängnis festgehalt­en.

Lassen Sie uns über Ihre aktuelle Reise sprechen: Warum fliegen Sie?

Man muss als Journalist auch weiterhin darauf bestehen, in die Türkei zu reisen und kritisch darüber zu berichten. Das bin ich auch meinen inhaftiert­en Kollegen schuldig.

Die Reise kann für Sie im Gefängnis enden.

Inshallah, so Allah, so Gott will... Quatsch. So Erdogan will ... Sein Wille geschieht. Wenn ich jetzt in die Türkei reise, um am Prozess gegen Mesale Tolu teilzunehm­en, dann lasse ich’s darauf ankommen. Die Fürspreche­r Erdogans, von denen ich eben gesprochen habe, würden dann vielleicht sehr nachdenkli­ch, ins Grübeln kommen und spüren, dass die anderen zahlreiche­n, willkürlic­h Inhaftiert­en wohl auch zu Unrecht einsitzen.

Was würden Sie bewirken?

Mit so einer Haftstrafe würde ich Erdogan weiter zusetzen, sein Verhalten stünde unter dem kritischen Licht der Öffentlich­keit. Psychologe­n nennen das eine paradoxe Interventi­on, wenn man problemati­sche Verhaltens­weisen nicht bekämpft, sondern sie zunächst akzeptiert und sogar übertriebe­n unterstütz­t und fördert. Damit entlarvt man sie. Natürlich weiß Erdogan längst, dass ich es darauf anlege, inhaftiert zu werden. Es gibt schließlic­h Anhaltspun­kte, dass seit meinen Türkeibesu­chen auch mein Telefon abgehört wird.

Sie wollen dieses Jahr Weihnachte­n in einem türkischen Gefängnis verbringen?

Ich hoffe nicht, aber wenn es denn sein muss, dann macht es Sinn und es wäre ein Solidaritä­tsbeweis für die über 150 Journalist­enkollegen in türkischen Gefängniss­en, mehr als in China, Russland und Iran zusammen. Die Gefängnisb­ranche, wenn man so sagen will, wächst in der Türkei dramatisch. 80 neue Haftanstal­ten sind in Bau. 1,3 Milliarden Euro werden investiert. Schwerstst­raftäter wurden entlassen, damit Platz geschaffen wird für angebliche Feinde Erdogans.

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