Gränzbote

Malen gegen den Tod

Zwei Neuerschei­nungen über Charlotte Salomon porträtier­en eine außergewöh­nliche Künstlerin

- Von Christa Sigg

Auf der Flucht vor den Nazis hat die Künstlerin Charlotte Salomon ihre eigene Biografie gemalt – die berührt in ihrer fantasievo­llen Tiefe und ist zugleich ein eindringli­ches Zeugnis der Zeitgeschi­chte

Sie sah nur zwei Möglichkei­ten für sich: entweder sich das Leben zu nehmen oder „etwas ganz verrückt Besonderes zu tun“. Charlotte Salomon hat sich für Letzteres entschiede­n und ein Werk hinterlass­en, das tatsächlic­h aus dem Rahmen fällt. Über 1300 autobiogra­fische Gouachen sind in nur anderthalb Jahren entstanden – die meisten expressiv farbig, anspielung­sreich, pointiert kommentier­end und immer sehr direkt in ihrer Wirkung.

In Auschwitz ermordet

Das Leben der einstigen Kunststude­ntin aus Berlin ging also weiter, doch das Malen hat sie am Ende doch nicht vor dem Tod bewahrt. Im September 1943 wurde die 26-Jährige im südfranzös­ischen Exil von den Nazis verhaftet und vermutlich zwei Wochen später in Auschwitz ermordet. Bis zu ihren letzten Tagen in Nizza hatte sie gemalt und geschriebe­n, immer vor sich hin summend, so als müsste sie sich beruhigen, vielleicht auch trösten.

In eine gutbürgerl­iche, jüdisch-assimilier­te Familie wurde sie während des Ersten Weltkriegs geboren. Der Vater, damals Truppenarz­t, war ein angesehene­r Chirurg, der sich um die Früherkenn­ung von Brustkrebs verdient gemacht hatte. Doch wie fast alle ihre weiblichen Verwandten beging die manisch depressive Mutter Suizid, da war Charlotte noch keine zehn Jahre alt. Der kleine Wildfang wird still und schwierig, vergrault ein Kindermädc­hen nach dem anderen. Bis „Frau Hase“aufkreuzt, dem Mädchen auf der Laute vorspielt und sie zum Zeichnen anregt.

1930 heiratet der Vater wieder, allerdings keine böse Stiefmutte­r, sondern die Altistin Paula Lindberg, die liebevoll mit ihrer Tochter umgeht und vor allem Musik ins Haus bringt. Für die mittlerwei­le aufgeschlo­ssene Jugendlich­e öffnet sich eine neue inspiriere­nde Welt, die mächtig wirkt – bis ins Detail taucht vieles später in den Bildern auf. Doch gleichzeit­ig wird Charlotte wegen ihrer jüdischen Herkunft in der Schule so sehr schikanier­t, dass sie noch vor dem Abitur abgeht.

Die junge Frau hat sensible Antennen, wittert die Gefahr, und man fragt sich, weshalb sie 1940 beim übergriffi­gen Großvater im Exil in Villefranc­he-sur-Mer bleibt, da liegt bereits ein Lageraufen­thalt hinter ihr, die Franzosen haben quasi kapitulier­t, und die Auslieferu­ng von 200 000 Juden an die Gestapo ist beschlosse­ne Sache. Hofft Charlotte, dass sich alles zum Guten wendet? Kaum. Erst recht stürzt der Selbstmord der Großmutter sie in eine tiefe Krise.

Malen hilft, das hat sie abgespeich­ert. Und nun entstehen Hunderte der eingangs erwähnten Blätter. Darunter das Singspiel mit dem vielsagend­en Titel „Leben? Oder Theater?“, in dem die Künstlerin auf ihr Leben und das der Familie zurückblic­kt. Die wenig verfremdet­en Rollen sind minutiös auf den Punkt gebracht und mit humorvolle­n bis sarkastisc­hen Pseudonyme­n versehen. Salomon lässt aber auch in die Abgründe ihrer verletzten Seele blicken. Die tote Mutter erscheint der kleinen Charlotte als Engel, und sie zeigt Traumseque­nzen, in denen van Goghs Inventar wie in einem Werk Chagalls durch Fantasierä­ume schwebt. Genauso zeichnet sie den fatalen Einmarsch der Braunen mit Hakenkreuz­fahne und die Pogrome, zu denen der antisemiti­sche „Stürmer“aufruft. Dazwischen: Anspielung­en auf die Kunstgesch­ichte, auf Michelange­lo („Nur durch Berührung kann Großes entstehen“), Rembrandt (der vom Dienst suspendier­te Vater wird zum Anatomen Dr. Tulp) oder Caspar David Friedrichs sehnsuchts­voll in die Ferne blickende Rückenfigu­ren.

Die Münchner Autorin Margret Greiner nähert sich der ungewöhnli­chen Künstlerin über die Bilder und verdichtet ihre jahrelange­n Recherchen zu einer spannenden Biografie, angefüllt mit fiktiven Dialogen. Die Kunsthisto­rikerin Astrid Schmetterl­ing beschreibt und analysiert in ihrem 2001 erstmals aufgelegte­n, nun erweiterte­n und nach wie vor lesenswert­en Essay vor allem Salomons „Leben? Oder Theater?“.

Dieser kühne Genre-Mix aus Zeichnung, Text und Musik hat in den letzten 15 Jahren einige Beachtung gefunden. Etwa durch die Präsentati­on auf der Documenta 2012 oder Marc-André Dalbavies Oper „Charlotte Salomon“, die in der Regie von Luc Bondy 2014 bei den Salzburger Festspiele­n Premiere hatte. Schließlic­h ist „Leben? Oder Theater?“wirklich etwas ganz verrückt Besonderes. Margret Greiner: Charlotte Salomon. Es ist mein ganzes Leben. Knaus Verlag, 304 S., 19,99 Euro Astrid Schmetterl­ing: Charlotte Salomon. Bilder eines Lebens. Jüdischer Verlag, 107 Seiten. 25 Euro.

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Charlotte Salomon, links im Selbstbild­nis von 1940, hat gemalt bis zu ihrer Verhaftung.
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FOTO: JÜDISCHES HISTORISCH­ES MUSEUM AMSTERDAM/ASTRID SCHMETTERL­ING

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