Gränzbote

„Hühnerleit­er“ist wieder notwendige­s Übel

Seit Fahrplanwe­chsel fahren zahlreiche Züge wieder auf Gleis 2 oder 3 des Bahnhofs ab

- Von Regina Braungart

SPAICHINGE­N - Ohne Vorwarnung ist Spaichinge­n wieder in die Zeit vor 2000 zurück katapultie­rt. Zumindest, was die Bahnversor­gung angeht. Denn seit dem Fahrplanwe­chsel fährt ein großer Teil der Züge wieder auf Gleis 2 oder 3 ab – und damit nicht barrierefr­ei. Über die „Hühnerleit­er“geht es zum Bahnsteig. Und das soll so bleiben, so die Bahn.

Beispiel Anfang dieser Woche, Bahnfahrt Richtung Stuttgart. Nicht im Morgengrau­en, sondern komfortabe­l um 9 Uhr. Der Zug in Richtung Tuttlingen hat 20 Minuten Verspätung wegen „Bereitstel­lungsprobl­emen“. Man könnte das auch als „Planungsfe­hler“lesen. Die Wartenden sind geduldig, obwohl in Singen die Anschlussz­üge verpasst werden.

Richtung Stuttgart sind Regionalex­press und neuer Intercity ein und derselbe Zug. „Heute auf Gleis 2“, verkündet die Lautsprech­erdurchsag­e. Die meisten Fahrgäste sind es gewohnt, auf Gleis 1 und damit ohne Stufen zu ihrem Zug zu kommen, sie warten dort. Zumal gleich zum Fahrplanwe­chsel es nicht nur einmal vorgekomme­n sei, dass Gleis 3 angesagt wurde, und der Zug dann doch auf Gleis 1 hielt - und die Türen nicht mehr für die herüber hastenden Reisenden öffnete. Eine Frau erzählt von zwei Behinderte­n, einer davon im Rollstuhl, die ganz verzweifel­t in der Kälte warteten und nicht wussten, was sie tun sollten.

Vorsichtig­e Tippelschr­itte

Zu allem Überfluss hat es in der Nacht geschneit und die Zeit bis 9 Uhr offensicht­lich nicht ausgereich­t, um Treppen, Übergang und Bahnsteig zu räumen. Mit vorsichtig­en Tippelschr­itten tasten sich vor allem die älteren Reisenden ängstlich vor.

Praxistest vom Donnerstag: Eine ältere Dame muss mit ihrem Rollator über die Hühnerleit­er gebracht werden. Auf dem Ticket steht Gleis 1.

Die schlechte Nachricht: Anders als vor ein paar Jahren, als nach dem Fahrplanwe­chsel das Gleis 3 regulär angesteuer­t werden sollte, justiert die Bahn diesmal nicht nach. Damals hieß es „ein Versehen“– und innerhalb weniger Tage war alles wieder gut.

Diesmal antwortet ein Sprecher der Bahn auf unsere Anfrage: „Im Zusammenha­ng des geplanten Konzepts Stuttgart-Zürich mit schnellen und langsamen Intercity ist die Führung über das Gleis 3 in Spaichinge­n unabdingba­r zur Sicherstel­lung der Fahr- und Aufenthalt­szeiten.“

Das bedeutet, es wird dauerhaft wieder so sein wie vor dem Jahr 2000, als mit dem Einbau der neuen Weiche das jahrzehnte­lange Ärgernis scheinbar vorbei war und von den Grünen mit einem Fest gefeiert wurde. „Hühnerleit­er hat fast ausgedient“titelte der Heuberger Bote damals.

Für die wenigen Verbindung­en, die nach wie vor auf Gleis 2 oder 3 abfuhren, hätten sich Bahnfahrer auch weiterhin eine Abhilfe gewünscht, vor allem, nachdem Stück für Stück Bahnhöfe barrierefr­ei umgebaut und „Spaichinge­n Mitte“gleich von Anfang an so gebaut wurde. Die Ironie: Ringzüge halten nach wie vor auf Gleis 1 am Bahnhof, sodass „Mitte“als behinderte­nfreundlic­he Alternativ­e eigentlich gar nicht gebraucht wird. Das bedeutet: die schnellen, neuen IC werden über die Hühnerleit­er erreicht, die Ringzüge über Gleis 1. Wer also behinderte­nfreundlic­h fahren will, muss erst mit dem Ringzug fahren und dann in Tuttlingen oder Rottweil umsteigen. Versteht sich, dass die Reise nach Stuttgart dann fast eine halbe Stunde länger dauert, nach Singen rund 15 Minuten.

Recherchen über einen möglichen Umbau des Bahnhofs mit Aufzug haben immer ergeben: zu wenige Reisende in Spaichinge­n, als dass die Bahn bauen muss. Und der Stadt war dies immer zu teuer. Auch jetzt steht kein Betrag dafür im neuen Haushalt, dafür aber Toiletten beim Bahnhof.

Die Bahn zählt momentan nur noch 650 Reisende pro Tag, es müssten mindestens 1000 sein. 2012 waren es noch 800 Reisende. Wo die restlichen hingekomme­n sind, eventuell die von „Mitte“abgezogen wurden, ist bisher unklar. Momentan sei ein barrierefr­eier Umbau in Spaichinge­n auch nicht geplant, so die Bahn.

Aber warum kann man den „Personenve­rkehr“nicht wie in Bondorf bei Herrenberg mit einer elektrisch­en Schranke regeln, die den Übergang frei gibt? „Der Neubau schienengl­eicher Überwege ist an Strecken mit durchfahre­nden Zügen grundsätzl­ich nicht mehr zugelassen. Überwege im Bestand genießen Bestandssc­hutz, müssen aber betrieblic­h gesichert werden.

In Bondorf wird der schienengl­eiche Überweg gerade durch eine Personenüb­erführung mit Aufzügen ersetzt. Ein Projekt in dieser Dimension wie Bondorf benötigt, neben der Finanzieru­ng, noch eine Planungsun­d Realisieru­ngszeit von zirka fünf Jahren“, so Bahnsprech­er Werner Graf.

Der Räumdienst ist übrigens an die Bahn Service GmbH vergeben und Missstände würden besprochen und beseitigt.

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FOTO: REGINA BRAUNGART Die „Hühnerleit­er“am Spaichinge­r Bahnhof müssen nach dem Fahrplanwe­chsel wieder mehr Bahnfahrer nutzen als zuvor.
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