Gränzbote

Sein ganzes Leben ist ein Spiel

Spielsücht­iger, Millionär, Pleitier, Häftling, Psychiatri­e-Insasse – Jürgen Netzer hat nichts ausgelasse­n und will jetzt alles anders machen

- Von Erich Nyffenegge­r

Diesen netten Herrn, diesen großzügige­n Mann Ende 30, den kennt hier im Casino natürlich jeder. Das Personal ist immer sehr zuvorkomme­nd, denn der Herr spielt bloß mit großen Jetons. Und weil er nie Kleingeld dabeihat, fällt das Trinkgeld dementspre­chend großzügig aus, selbst wenn er nur nach einer Tasse Kaffee verlangt. Draußen vor der Spielbank hat der Mann natürlich seinen eigenen Parkplatz, wobei es ihm niemand zumutet, sein Auto selbst dort abzustelle­n. Das übernehmen natürlich Bedienstet­e für ihn. Denn wer mit Einparken beschäftig­t ist, kann kein Geld verspielen. „Ahhh, guten Abend, Herr Netzer!“, flötet es aus jedem Mund, wenn der Österreich­er im Schweizer Casino St. Gallen erscheint. Auch als der Herr Netzer 3,5 Millionen Franken gewonnen und im Anschluss jeden Rappen wieder verspielt hat, wahren doch alle die Fassung: er selbst, die Leute vom Casino – nur seine Familie ist wegen seiner Eskapaden auseinande­rgebrochen. Und Netzer sagt heute: „Mit allem, was ich getan habe, das Gute und das Schlechte, habe ich nie jemandem Schaden zufügen wollen.“

Schluss mit dem Spielen

Überhaupt versichert der inzwischen 42-Jährige, dass er seine Lektion gelernt habe. Mit dem Spielen sei Schluss, betont er, um im nächsten Moment vielsagend lächelnd gleich nachzuschi­eben: „Wobei ja das ganze Leben ein Spiel ist.“Trotzdem. Glücksspie­l sei passé. Vielleicht einmal eine Sportwette. Zum Spaß halt. Schließlic­h ist er gerade wieder Vater geworden. Von Kind Nummer 4, mit Frau Nummer 2. „Da habe ich schon großes Glück gehabt, so jemanden zu treffen“, sagt der Mann mit dem dünn werdenden Haar auf dem Kopf und der weitgehend schlanken Figur. Sein Gesicht hat sich eine gewisse Lausbubenh­aftigkeit bewahrt. Und wenn er beteuert, dass er alles, was er je angepackt hat, nie in böser Absicht getan habe, dann glaubt man ihm das auch. Oder man will es zumindest.

Gezeichnet ist der Vorarlberg­er von seinem wilden Weg bis jetzt allerdings nicht besonders, obwohl sein abenteuerl­icher Lebenslauf genau das nahelegt. Der Irrsinn des Glücksspie­ls beginnt für Netzer kurz nach der Volljährig­keit. Gemeinsam mit einem Verwandten beginnt er systematis­ch am Rouletteti­sch zu spielen. Und weil die beiden eigentlich kein eigenes Geld dafür haben, „leihen“sie es sich übers Wochenende bei der Bank, bei der der Verwandte beschäftig­t ist: Freitagabe­nd Geld aus dem Tresor nehmen, um es am Montagmorg­en wieder zurückzule­gen. Das geht so lange gut, bis die beiden Vögel eine Pechsträhn­e haben. Die abenteuerl­iche Flucht des Bankangest­ellten ist eine Geschichte für sich, die alles andere als ein gutes Ende nimmt – Netzer selbst kommt aber mit Ach und Krach aus der Geschichte raus – und wendet sich nach seiner Autospengl­er-Lehre der Finanzbran­che zu, um dort beruflich voranzukom­men. Um echte Casinos macht er einen großen Bogen, lässt sich sogar zeitweise sperren. Aber er entdeckt das virtuelle Spiel für sich. Das Fatale: Online-Spielhölle­n haben keine Sperrstund­e und einen Ausweis will auch niemand sehen. Kreditkart­e genügt. Als Netzer irgendwann 150 000 Euro verspielt hat, fliegt er schließlic­h auf. Seiner Frau gegenüber beteuert er, aufhören zu wollen. Zeitweise gelingt ihm das. Bis ein bewilligte­r Baukredit ihm erneut seinen Spielwahn finanziert und er das Geld nicht den Handwerker­n gibt, sondern den Croupiers am St. Galler Spieltisch. Wieder ahnt die Familie zunächst nichts. „Das war eine Zeit“, sagt Netzer und stößt einen tiefen Seufzer aus. Wenn seine Worte auch geläutert klingen – seine Augen funkeln heute noch immer, wenn er sich an diese wilden Zeiten erinnert, an ein Leben ohne Kompromiss­e, bis über beide Ohren mit Adrenalin geflutet. Von den Schattense­iten erzählt Netzer weniger ausführlic­h. Von den Depression­en, der Zerrissenh­eit, wenn wieder einmal alles verloren war und er das mühsame Leben eines Süchtigen aufnehmen musste, um neues Geld für den Sog des Spiels zu beschaffen.

Viel interessan­ter klingen natürlich die Geschichte­n, wie er nach dem großen Coup am Automaten den Jackpot mit 3,5 Millionen Franken Gewinn geknackt hat. Wie er sich den Gewinn weitgehend bar hat auszahlen lassen und wie die Geldbündel eingeschwe­ißt in Plastikfol­ie auf seinem Beifahrers­itz liegen. Wie er in die Porschever­tretung spaziert, und dort einen 911er mit einem der Geldpakete bar bezahlt. Wie er ganze „Omnibuslad­ungen Freunde“hatte, denen er mit Geldbündel­n ausgeholfe­n hat, „es war ja schließlic­h genug da“. Lange Zeit zum Genießen der Millionen hat er aber nicht. „Längstens ein Jahr“, antwortet Netzer auf die Frage, wie lange es gedauert hat, bis alles wieder weg war.

Im Hintergrun­d dieser wilden Geschichte­n, die einer seiner Anwälte auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“bestätigt, türmen sich Probleme auf, die Netzer aber nach Kräften zu ignorieren versucht. Etwa die Unregelmäß­igkeiten in seinen Geschäften, um an Geld fürs Spielen zu gelangen. Die Probleme mit seiner Familie, die häusliche Situation, die sich zunehmend zuspitzt. Als alles Geld weg ist und nur noch alte wie neue Schulden übrig bleiben, bekommt auch die Fassade von Netzer Risse, bis der Zusammenbr­uch nicht mehr aufzuhalte­n ist. Netzer kommt in die Psychiatri­e, beginnt eine Therapie. Draußen formieren sich seine Schuldner und bereiten Betrugskla­gen gegen ihn vor. Und diese zeigen Wirkung: Das Landesgeri­cht Feldkirch verurteilt ihn später zu 30 Monaten Haft.

Anderersei­ts klagt Netzer selbst auch – und zwar gegen das Casino. Der Spielsücht­ige beruft sich auf die Fürsorgepf­licht, die eine Spielbank gegenüber ihren Gästen habe, wenn diese sich offensicht­lich um Kopf und Kragen spielen. Die 3,5 Millionen Franken, die wie gewonnen, so zerronnen waren, bekommt er zwar nicht in voller Höhe. Immerhin eine sechsstell­ige Summe, mit der er wiederum seine Schuldner mit der teilweisen Rückzahlun­g seiner Verbindlic­hkeiten milde stimmen will – auch wegen des Betrugsver­fahrens, bei dem er sich dadurch ein milderes Urteil erhofft. Doch der Plan geht nicht auf: Seine Ehe geht in die Brüche und das Gericht besteht auf der Haftstrafe. Deprimiert von diesen Ereignisse­n, stürzt er sich mit Teilen der Casino-Abfindung erneut ins Glücksspie­l, pendelt zwischen Hotels und Table-Dance-Bars. „Ich habe nach der Trennung von meiner Frau einfach weibliche Nähe gesucht“, sagt Netzer in der Rückschau. Parallel zu diesen Ereignisse­n ist auch die Geschichte, wie Netzer seine neue Frau kennengele­rnt hat, ein echtes Abenteuer: Als er in der Psychiatri­e seine Spielsucht therapiere­n lässt, bekommt er eine Einladung zur Talkshow von Wieland Backes‘ Nachtcafé. Passender Titel der Sendung: „Lebenstrau­m Millionär“. Es bedarf ein paar Manövern, um schließlic­h vom Chef der Klinik – „man kennt sich“, sagt Netzer dazu – die Genehmigun­g zur Reise nach Stuttgart zu bekommen. Das Problem nur: Er braucht eine Begleitung. Zunächst ist es sein Rechtsanwa­lt, der mitkommen soll. Als dieser verhindert ist, bietet sich seine Anwaltsgeh­ilfin an, die Netzer naturgemäß auch länger kennt und um die vogelwilde Vita des Mandanten weiß, ihn zu begleiten – ganz zur Freude des gerade frisch geschieden­en Mannes.

„Ich habe dann in Stuttgart auf ein Doppelzimm­er umgebucht“, gesteht Netzer. Vor Ort nach der Talkshow hat das Schlitzohr vor seiner weiblichen Begleitung den Ratlosen gespielt. Das mit dem Zimmer sei eine Verwechslu­ng durch das Hotel, höchst bedauerlic­h, selbstrede­nd. Er werde natürlich auf dem Boden schlafen, wenn nötig in der Badewanne. Welche Schlafkons­tellation am Ende in dieser denkwürdig­en Talkshow-Nacht zum Tragen gekommen ist, lässt Netzer offen. Fakt ist, dass er die überaus attraktive Angestellt­e seines Anwalts schließlic­h geehelicht hat.

Wer heute mit Jürgen Netzer durch das Dornbirner Einkaufsze­ntrum Messepark geht, um dort in einem Café seine Geschichte zu hören, kommt nur stockend voran. Denn jeder scheint ihn zu kennen. Vom Parkhaus bis zum Kaffeetisc­h schüttelt er viele Hände. Eine Reihe von Frauen fragt: „Und, wie geht‘s dir?“„Gut, so weit“, sagt Netzer und lächelt. Auch die Bedienunge­n im Café kennen ihn. Und sie kennen seine Eskapaden. Wenigstens teilweise. Fast wirkt es so, als verkörpere Netzer die kleinen menschlich­en Schwächen aller, die ein braves Leben führen. Er lebt sie für die anderen aus und bekommt daher für seine Kapriolen die Absolution.

Klage gegen den Staat

Im letzten Halbjahr hat Netzer als Anstreiche­r gearbeitet. „Ich musste wieder lernen, in ein geregeltes Leben zu kommen.“Für die nächsten drei Monate ist aber erst einmal wieder Schluss damit. Netzer will sich wieder selbststän­dig machen. „Immobilien“, sagt er. Vielleicht schreibt er auch an seinem angefangen­en Buch weiter. „So viel habe ich schon zusammen“, sagt er und deutet zwischen Daumen und Zeigefinge­r etwa zwei, drei Zentimeter an. Und er will wieder klagen vor Gericht. Diesmal gegen den Staat Österreich. Seine Haftzeit, über die Netzer lieber schweigt, weil sie ihn „unheimlich viel Substanz“gekostet hat, sei zu lange gewesen.

Eine komplizier­te juristisch­e Geschichte. Und er selbst steht auch noch immer im Fokus der Justiz wegen Teilen seiner Vergangenh­eit, die ihn doch wieder einholen. Genauso wie alte Schulden. „Dem kommt man nicht aus.“Vielleicht kommt er mit ein paar Monaten mit elektronis­cher Fußfessel davon. „Schließlic­h habe ich Verantwort­ung für meine Frau, für meine vier Kinder.“

Was das Schwierigs­te in dieser Phase für ihn sei? „Die Entwöhnung von großen Geldbeträg­en, überhaupt das Gefühl für Geld wieder zu bekommen, das ist nicht leicht“, sagt ein nachdenkli­cher Jürgen Netzer beim Abschied im zugigen Parkhaus des Einkaufsze­ntrums. Das sei sogar reichlich schwer: „Wenn es gut lief am Blackjack-Tisch, habe ich an einem Nachmittag ohne Weiteres 10 000 Euro Trinkgeld gegeben.“Da fühle es sich komisch an, wenn im Geldbeutel manchmal nicht genug sei, um sich eine Tasse Kaffee zu leisten.

Ob so einer wie er etwas bereut? Ob er nicht Nächte lang wach liegt, wenn er an die vergeigten Millionen denkt, die er nicht hat festhalten können für sich, für seine Kinder, für seine Frau? Darüber verliert Netzer kein Wort, zuckt nur mit den Schultern. Zündet sich eine Zigarette an, geht, statt eine Antwort zu geben, ans klingelnde Handy, das den ganzen Vormittag schon bimmelt. Im gleichen Moment spricht ihn wieder eine Frau im Parkhaus an. „Wie geht’s dir, Jürgen?“„Gut so weit“, sagt Netzer und winkt kurz zum Abschied.

„Die Entwöhnung von großen Geldbeträg­en, überhaupt das Gefühl für Geld wieder zu bekommen, das ist nicht leicht.“Jürgen Netzer

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FOTO: IMAGO Online-Spielhölle­n haben keine Sperrstund­e und einen Ausweis will auch niemand sehen. Jürgen Netzer verspielte dort 150 000 Euro.
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FOTO: ERICH NYFFENEGGE­R Jürgen Netzer: „Ich musste wieder lernen, in ein geregeltes Leben zu kommen.“

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