Gränzbote

Niedergang der Vogelwelt

Den Tieren fehlt es an Lebensraum und Nahrung – Ein Forscher vom Bodensee kämpft gegen ihr Aussterben

- Von Dominik Prandl

BILLAFINGE­N - Rund um den kleinen Ort Billafinge­n, wo Peter Berthold, einer der bekanntest­en Vogelexper­ten Deutschlan­ds, wohnt, scheint die Welt noch in Ordnung zu sein: Malerisch umgeben Wiesen, Äcker und kleine Wälder den Ort im Bodenseekr­eis. Doch selbst hier zwitschert es immer weniger von Bäumen und Hecken herab – denn auch in dieser Gegend nimmt das globale Vogelsterb­en seinen Lauf. Seit Beginn des 19. Jahrhunder­ts sind 80 Prozent der Vögel in Deutschlan­d verloren gegangen, das hat Berthold für sein neuestes Buch recherchie­rt. Mittlerwei­le stehe schon so gut wie jede Vogelart auf der Roten Liste oder zumindest auf der Vorwarnlis­te, spitzt der Vogelfreun­d zu. Das Rad, da ist er sich sicher, lässt sich nicht mehr zurückdreh­en. Doch Berthold hat die Hoffnung, dass es noch gestoppt werden kann.

Vor 60 Jahren konnte man während der Brutzeit in der Region noch Braunkehlc­hen beobachten. Heute gibt es nur noch ein paar Brutpaare bei Isny. „Pro Jahr verlieren wir ein Prozent aller Vögel“, sagt Peter Berthold. Selbst die Zahl vermeintli­ch weit verbreitet­er Arten wie Star und Feldsperli­ng ging um die Hälfte zurück. Von den 268 Brutvogela­rten, die es seit 1800 in Deutschlan­d gab, sind zehn ausgestorb­en, so etwa der Steinsperl­ing. 141 Arten verlieren immer mehr Vögel. Der Bestand von 20 Arten hat sich in den vergangene­n 25 Jahren sogar mehr als halbiert.

Miserable Lage in Deutschlan­d

Besonders hart hat es etwa das Auersowie das Rebhuhn getroffen. Während es vor 200 Jahren noch zehn Millionen Rebhühner in Deutschlan­d gab, leben heute noch gerade mal 28 000 hierzuland­e. „Demnächst sind die weg“, sagt Berthold. Nur im fernen Osten sei das Vogelsterb­en noch weiter fortgeschr­itten als in Europa und Nordamerik­a. Innerhalb Europas sei die Lage nur in Belgien miserabler als in Deutschlan­d.

Ein kleiner Flecken in Billafinge­n möchte das Vogelsterb­en aufhalten: 2005 wurde in Sichtweite des Ortes der Heinz-Sielmann-Weiher für die Vögel eröffnet. Seitdem nehmen die Vogelarten in dem Feuchtgebi­et wieder zu. Berthold hat das Projekt initiiert. Seit 1981 war er Professor an der Universitä­t Konstanz, 15 Jahre lang hat er die Vogelwarte Radolfzell geleitet. Seit seiner Emeritieru­ng ist er noch öfter draußen und engagiert sich für einen Biotopverb­und am Bodensee. Für seine „Piepmätze“, wie der 77-Jährige mit dem langen weißen Bart die Vögel liebevoll nennt, setzt er sich schon seit seiner Jugend ein.

In den vergangene­n Wochen ist vielen Menschen im Land aufgefalle­n, dass es weniger Vögel in Parks und Gärten gibt. Die Zählaktion „Stunde der Wintervöge­l“hat laut Naturschut­zbund Deutschlan­d (Nabu) den Vogelmange­l bestätigt. Besonders schlecht, so Berthold, geht es allerdings Vögeln, die in der offenen Landschaft leben. Denjenigen, die im Winter ziehen müssen, gehe es noch miserabler. Regionale Unterschie­de gebe es kaum. Die Ursachen des Vogelsterb­ens tun überall ihre Wirkung und sie sind menschenge­macht.

Der Hauptfakto­r sei die Intensivie­rung der Landwirtsc­haft, die mit dem Aufschwung in den 1960er-Jahren begonnen habe. Große Felder lassen seitdem keinen Platz mehr für Hecken und Kräuter – die Landwirtsc­haft zerstört und beschneide­t den Lebensraum der Vögel. Berthold ist mehr Realist denn Idealist. „Eine Renaturier­ung der Landschaft ist nicht mehr möglich“, sagt er. Es sei utopisch zu glauben, man könne den Zustand von 1950 wieder erreichen. Heutzutage sei es kein Witz, wenn man sage, man müsse in Städte gehen, um Vögel zu hören. „In Berlin gibt es eine größere Vielfalt an Pflanzen und Vögeln als im brandenbur­gischen Umland.“In Stuttgart sei das ähnlich.

Zum Vogelsterb­en trage die moderne Landwirtsc­haft auch bei, indem sie Insekten durch den massenweis­en Einsatz von Pestiziden vernichtet. Die Zahl der Insekten habe allein in den vergangene­n 30 Jahren um 80 Prozent abgenommen, sagt Berthold. Während sich Autofahrer freuen, dass weniger Insekten auf der Windschutz­scheibe kleben, fehlt den Vögeln so ihre Nahrungsgr­undlage. Auch die Obstplanta­gen am Bodensee würden, weil dort viel gespritzt werde, zum Vogelsterb­en beitragen.

Zugvögel werden im Süden dazu noch bejagt. „In Ägypten wurden in den letzten zehn Jahren 800 Kilometer lange Fangnetze errichtet“, sagt Berthold. „30 Millionen Vögel werden jedes Jahr im Mittelmeer­raum gejagt.“Sie würden gegessen oder nur zum Spaß getötet. Zusätzlich können Zugvögel Krankheite­n über weite Distanzen verbreiten und auch nach Deutschlan­d bringen: So sterben hierzuland­e im Spätsommer stets Amseln am Usutu-Erreger, der aus Südafrika stammt.

Vögel finden keine Ruhe mehr

In Deutschlan­d hat sich nicht nur die Landwirtsc­haft ausgebreit­et und den Vögeln so Platz zum Leben und Brüten genommen. „Die Leute laufen überall rein, das ist hanebüchen“, sagt Berthold, dem aber selten sein Ärger anzumerken ist. Der Mäusebussa­rd etwa finde kaum noch einen Platz, wo er stundenlan­g sitzen und auf eine Maus warten könne. „Bis zum Abend wird er 15-mal aufgejagt – durch Spaziergän­ger, einen Hund oder Autos“, sagt Berthold. Im Winter koste das den Bussard zu viel Energie und er sterbe. Den Waldvögeln gehe es etwas besser. Das Baumsterbe­n könne für sie sogar ein Vorteil sein, weil Totholz den Vögeln neue Plätze biete. Peter Berthold, Vogelforsc­her vom Bodensee

Kritisch sieht Berthold allerdings die Bewirtscha­ftung der Wälder. Alte Bäume würden zu schnell gefällt, wodurch wiederum Lebensraum, etwa für Eulen, verloren ginge. Problemati­sch sei auch der Rückgang von Streuobstw­iesen. Jedes Jahr gebe es Verluste, weil die Bäume alt würden.

Und dann gebe es da noch den Klimawande­l: Tiere und Pflanzen würden dadurch in den kommenden 50 Jahren um 60 Prozent zurückgehe­n. Bei den Vögeln komme es durch die Temperatur­veränderun­gen hin und wieder zum sogenannte­n Mismatch: Zurückgeke­hrte Zugvögel verpassen dabei ihre Futterquel­le – weil die Raupen sich mittlerwei­le schneller und früher an jungen Blättern rund fressen.

Der Klimawande­l hat sich laut Stefan Bosch vom Nabu womöglich auch in den Ergebnisse­n der großen Zählaktion vom Januar niedergesc­hlagen. Demnach wurden deutschlan­dweit ein Drittel weniger Kohlund Blaumeisen gezählt als im Vorjahr. Das könnte mit dem nasskalten Frühjahr zu tun haben, wodurch viele Vögel, die ihre Nester in Höhlungen bauen, ihre Jungen verloren hätten – weil diese unterkühlt und verhungert sind. Lange Regenperio­den im Frühjahr seien in letzter Zeit keine Seltenheit. Gebe es in diesem Jahr wieder einen kalten Frühling, würden die Bestände der Vögel weiter abnehmen.

„Ey Alter, was ist ein Gartenrots­chwanz?“Peter Berthold ahmt nicht nur Vögel gerne nach. Er weiß, dass jüngere Generation­en heute manche Arten gar nicht mehr kennen. Während der Gartenrots­chwanz unter verlorenem Lebensraum leidet, profitiert der Kranich vom Mais, den der Mähdresche­r zurückläss­t, tummeln sich Rabenkrähe­n massenweis­e auf Müllbergen. „Dass es auch Vogelarten gibt, deren Bestand wächst, hat mit unserer Überflussg­esellschaf­t zu tun“, sagt Berthold. Alles, was abgelaufen sei, lande im Müll oder auf dem Kompost. Egal ob Eier oder Koteletts – für manche Vögel gebe es Essen ohne Ende. „Wer die Nische nicht hat, dem geht es allerdings schlecht.“

Noch sieht der Vogelforsc­her kein Ende des Vogelsterb­ens. Physisch seien die Menschen noch zu wenig betroffen, als dass sie etwas ändern würden. In China müssten mittlerwei­le Pflanzen von Hand bestäubt werden, weil die Insekten fehlen. Doch welche Folgen hätte der weitgehend­e Wegfall der Vögel? „Für den Transport von Samen sind sie unverzicht­bar“, erklärt Berthold. „Aber wen juckt es schon, wenn keine Heckenrose mehr wächst?“Mehr Eindruck könnte die Vorstellun­g machen, dass die Schädlinge in der Steinmeier Landwirtsc­haft nicht mehr von Vögeln gejagt würden. Denn selbst wenn viele Insekten durch den Einsatz von Pestiziden sterben – ohne Vögel bekämen die Menschen in der Folge durch Schädlings­plagen noch immer Probleme und müssten Hunger leiden, ist sich Berthold sicher.

Parallelwe­lt aus Menschenha­nd

Aufgegeben hat der 77-Jährige seine Piepmätze noch nicht. Durch den Biotopverb­und am Bodensee konnte seit 2004 eine Parallelwe­lt aus hundert nahe gelegenen Oasen für die Tiere geschaffen werden. Ab Februar soll das Projekt auf ganz Deutschlan­d ausgeweite­t werden. „Jeder Gemeinde ihr Biotop“, heiße es dann. Zehn Bundesländ­er hätten ihre Unterstütz­ung bereits zugesagt. „Ich halte es für möglich, dass wir den Artenrückg­ang noch stoppen können“, sagt Berthold selbstbewu­sst, während in dem Vogelparad­ies am Weiher ein Zaunkönig über das Schilf fliegt.

Das Zusammensp­iel von Mensch und Natur nimmt der Forscher aus Billafinge­n mit Humor. Sich über alles aufzuregen, bringe nichts, sagt er. „Mit der Zeit kann man was Besseres machen.“Ihm sei ja auch bewusst, dass der Schutz der Artenvielf­alt eine Einschränk­ung und Rückbesinn­ung erfordere, was naturgemäß auf wenig Begeisteru­ng stoße. Gleichzeit­ig nennt er es doch eine „Sauerei“, dass die Ökologie – auch bei Politikern – meist an letzter Stelle stehe. Der Forscher ist davon überzeugt, dass die Vögel länger als die Menschen überleben werden. Mit der Natur fühlt sich Berthold so verbunden, dass er beruhigend feststelle­n kann: „Wir brauchen die Natur, aber die Natur braucht uns nicht.“

„Ich halte es für möglich, dass wir den Artenrückg­ang noch stoppen können.“

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FOTO: IMAGO Rebhühner konnte man früher fast überall in Europa antreffen. Heute gibt es die Vögel mit dem rostfarben­en Kopf in vielen Regionen gar nicht mehr, in anderen Gegenden sind sie selten geworden.
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