Schulter an Schulter
Die kurdische Gemeinschaft fühlt sich hierzulande durch Türken diskriminiert – Zu Besuch im Mesopotamischen Kulturzentrum
FRIEDRICHSHAFEN - Sanft treibt Tanzlehrer Ömer Yanalak seine Mädchengruppe zusammen: „Kinder, tanzen!“, ruft er ihnen zu und stellt sie in einer Reihe auf. Jeden Sonntag trainieren die knapp zwanzig Mädchen traditionelle kurdische Tänze im Mesopotamischen Kulturzentrum in Friedrichshafen. Lehrsprache: Kurdisch. Eine Sprache, die in der Türkei noch bis vor Kurzem unter Strafe stand.
„In der Grundschule in der Türkei wurde ich geschlagen, wenn ich nur ein Wort kurdisch gesprochen habe“, erinnert sich Yanalak. 1991 floh er mit seiner Familie nach Deutschland. Damals war es in seinem Heimatort Sırnak in der Osttürkei Gesetz, den Kindern die türkische Sprache in der Schule vorzuschreiben, obwohl die Mehrheit der Einwohner kurdisch war
Heute ist er stolz, zu Hause und im Kulturzentrum kurdisch zu sprechen und es auch den Kindern beizubringen. Dabei wachsen kurdische Jungen und Mädchen in Deutschland meist dreisprachig auf. Neben Deutsch und Kurdisch ist auch Türkisch Teil des Alltags vieler Kinder. Die meisten Kurden in Friedrichshafen stammen aus der Türkei – und selbst 3500 Kilometer entfernt spüren viele noch die Spannungen in ihrer Heimat.
„Eine Sprache, ein Glaube, eine Kultur – ein Land“, das sei das Motto der heutigen türkischen Regierung, und das schließe andere Kulturen aus, sagt Yanalak. Der kurdisch-türkische Konflikt währt schon lange (siehe Kasten). Zahlreiche Verbote sollten die kurdische Kultur unterdrücken. Im Rahmen der türkischen EU-Bewerbung lockerte der damalige Ministerpräsident und heutige Staatschef Recep Tayyip Erdogan viele der Sprachverbote.
Monatelang namenlos
Sechs Monate lang hatte Yanalaks neugeborener Sohn keinen Namen, weil das türkische Konsulat den kurdischen Namen nicht akzeptieren wollte. „Sie finden immer Gründe, warum kurdische Namen nicht erlaubt sind, bis man einen türkischen Namen wählt“, sagt der Tanzlehrer. Einen kurdischen Namen bekam sein Sohn dennoch. Nur im türkischen Pass steht etwas anderes. „Wir haben alle zwei Namen“, sagt Yanalak.
Nicht nur in diesen Fällen spürt der 38-Jährige türkisch-kurdische Spannungen selbst in Deutschland. Mehr als einmal habe er erlebt, dass Gruppen von Türken bei Stadtfesten geschlossen aufgestanden und gegangen seien, wenn seine kurdische Tanzgruppe auf die Bühne trat oder seine Schwester anfing, kurdisch zu singen.
Mittlerweile soll die kurdische Gemeinde die drittgrößte Einwanderergruppe nach Türken und Russen sein. Offiziell wird die Zahl der Kurden in Deutschland nicht erfasst, weil Einwanderer nach ihrer Nationalität registriert werden. Der Verein Kurdische Gemeinde Deutschland schätzt, dass in der Bundesrepublik 1,2 Millionen Menschen kurdischer Abstammung leben. Dennoch haben viele das Gefühl, ihre Kultur und ihre Sprache verbergen zu müssen, um Streit oder Diskussionen zu vermeiden. Das Versteckspiel und die Diskriminierung sei für Kurden eine psychische Belastung, sagt Yanalak.
„Ich habe lange nicht gesagt, dass ich Kurde bin. Ich hatte bis in die frühe Jugendzeit Angst, weil ich der Einzige war“, sagt Bülent Sarica. Der 26Jährige leitet die Jugendgruppe im Mesopotamischen Kulturzentrum und kann seine Furcht von damals heute nicht mehr verstehen.
Nicht selten gab es bei Festen Gewalt zwischen kurdischen und türkischen Gruppen in Friedrichshafen. „Die Eltern geben die Vorurteile an die Kinder weiter“, sagt Yanalak. Der Konflikt hat nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland bereits Tradition. In den 1990er-Jahren trugen Kurden und Türken ihre Kämpfe aus der Heimat in die Bundesrepublik. Die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) verübte zahlreiche Anschlä- ge auf türkische Einrichtungen. Durch den Konflikt gab es zahlreiche Opfer sowohl auf türkischer als auch auf kurdischer Seite.
Im April wählten 63,1 Prozent der in Deutschland lebenden Türken ein autoritäres Präsidialsystem, das Präsident Erdogan mehr Macht geben soll. In der Türkei waren es im Gegensatz dazu nur 51,4 Prozent. Yanalak war entsetzt über dieses Ergebnis. „Es ist doch ein trauriges Zeichen, wenn Menschen, die in Deutschland leben, essen und trinken, die Demokratie und die deutsche Geschichte gelernt haben, einen Diktator wählen“, sagt der 38Jährige und erhebt zum ersten Mal seine Stimme.
Schwammig gegenüber PKK
Er fühlt sich unwohl, zwischen so vielen Türken zu leben, die dem Präsidenten gegenüber positiv eingestellt sind. Während Erdogan sein Amt demokratisch begann, hat er seine Linie mittlerweile geändert. Die Hoffnung der Kurden auf Gleichberechtigung und Selbstverwaltung schwindet, nachdem ihnen die türkische Regierung keine weiteren Zugeständnisse gemacht hat und die Kämpfe mit der PKK erneut ausbrachen. In Deutschland gilt die PKK als Terrororganisation. Sie kämpft für einen autonomen kurdischen Staat und gegen die türkische Regierung. Dafür verübt sie auch Anschläge, nicht selten mit vielen Toten unter Polizei, Militär, Politikern, bisweilen aber auch Zivilisten. Die Mitglieder des Mesopotamischen Kulturzentrums positionieren sich in Sachen PKK schwammig. Sie distanzieren sich nicht, bekennen sich aber auch nicht zu ihr. Für Yanalak ist die PKK aber eine Organisation, die für die Kurden in der Türkei kämpft.
Der Tanzlehrer ist selbstständig und kommt oft in die für ihn unange- nehme Situation, dass er in seinem Geschäft auf Türkisch angesprochen wird. Denn obwohl er türkisch versteht, möchte er lieber deutsch sprechen: „Ich antworte dann auf Deutsch und die Leute fragen: Bist du Türke?“Auch wenn er versucht, die Frage zu umgehen, an seinem Dialekt und spätestens dann, wenn er seine Heimatstadt nennt, merken die Besucher, dass Yanalak ein Kurde ist: „Und dann kommen viele Türken nicht mehr in den Laden und machen Mundpropaganda gegen mich.“
Sein Sohn merkt bereits in der siebten Klasse Sticheleien. Als er für ein Schulprojekt über seine Herkunft und die Kurden spricht, fragen ihn türkische Klassenkameraden: „Zeig doch deinen kurdischen Pass. Dein Land gibt es nicht, wo soll Kurdistan liegen?“. Diese Erfahrungen machen nicht nur Kurden in Friedrichshafen. Mehmet Tanriverdi, stellvertretender Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, hört viele solcher Geschichten in ganz Deutschland. „Besonders bei Kindern gibt es so etwas oft. Sie haben das von ihren Eltern“, sagt er.
Kampf für die Menschenrechte
Die Mehrheit der Deutschen sehe aber sehr wohl einen Unterschied zwischen Kurden und Türken und ordne die Kurden nicht als Teil des türkischen Volkes ein. Es seien türkischstämmige Menschen, die ein eigenständiges kurdisches Volk leugnen. „Es gibt diese Diskriminierung von türkischer Seite, weil sie von der Zahl her stärker sind“, sagt Tanriverdi. Die 130 Mitgliedsfamilien des Mesopotamischen Vereins könnten zahlreiche solcher Erlebnisse erzäh- len. Dennoch: „Wir sind hier in Deutschland und dürfen unsere Kultur leben. Wir lassen uns von türkischer Seite nicht diskriminieren“, sagt der 26-jährige Sarica. Yanalak versteht es als einen Kampf für die Menschenrechte und für Gerechtigkeit, damit die Kurden als Volk anerkannt werden. Ein eigenes Land müsse dafür nicht gegründet werden, darin ist er sich mit anderen Helfern im Verein einig. „An Europa sieht man, dass Grenzen nicht mehr wichtig sind. Aber Freiheit und Gerechtigkeit, das muss gegeben sein“, sagt Bozçalı Kullo, der Yanalak beim Tanzunterricht unterstützt.
„Ein Volk ohne Kultur gibt es nicht und bedeutet nichts“, sagt Yanalak und zeigt stolz auf seine Gruppe tanzender Mädchen. Die Kultur und Sprache der Kurden müsse bewahrt werden. Die Werte, die er sich für sein Volk wünscht, sind auch in den Tänzen zu sehen: Die Mädchen halten sich an den Händen und schließen Schulter an Schulter ihren Kreis. Sie lachen und bewegen sich fröhlich zu der rhythmischen Musik.
Von den Konflikten aus der Heimat ihrer Eltern ist, während sie tanzen, nichts zu spüren. Doch dabei stärken sie nicht nur ihr Gruppengefühl, sie grenzen sich auch ab – Schulter an Schulter gegen einen Staat, von dem sie sich nach Jahrzehnten immer noch unterdrückt fühlen.