Da ist der Wurm drin
Die Zukunft der Nahrung könnte sechs Beine haben – Wie sonst sollen zehn Milliarden satt werden?
UZWIL - Wenn es sich herumspricht, dass ein Restaurant Essen auf den Teller bringt, in das sich Insekten eingeschlichen haben, bleiben die Gäste schlagartig weg. Dafür kommt die Lebensmittelbehörde, mit der nicht zu spaßen ist. Schlimmstenfalls schließt sie das Lokal, wenn sich der Befall als gravierend herausstellt. Im Restaurant des Hotels Uzwil im gleichnamigen Ort im Schweizer Kanton St. Gallen, ist es genau umgekehrt: Immer mehr Menschen kommen extra zum Essen, gerade weil dort Insekten auf dem Teller landen – wenn auch in einer Form, die mit den ursprünglich sich windenden Larven von „Tenebrio molitor“, also dem gemeinen Mehlkäfer, nicht mehr viel zu tun hat.
Die Mittagsatmosphäre ist entspannt, leichte Popmusik tröpfelt im Hintergrund aus den Lautsprechern: Im gepflegten Gastraum verlieren sich ein paar Business-Menschen beim Lunch. Der nicht minder gepflegte und aufgeräumte Hoteldirektor René Meier sagt: „Die Leute sind neugierig. Sie wollen wissen, wie Insekten schmecken. Aber jetzt möchte ich Sie nicht weiter stören, sonst wird das Essen kalt.“Was der Hoteldirektor als Essen bezeichnet, liegt schön arrangiert auf einem länglichen Teller: zwei wie flache Fleischküchle anmutende sogenannte Patties, in der Mitte halbiert. Dazu frischer Rucolasalat, angereichert mit neckischen Sprossen. In diesen Frikadellen also stecken sie drin, die Mehlwürmer, die das globale Nahrungsproblem der Zukunft lösen sollen. Unter dem leichten Druck des Messers geben die Käferlarven-Patties nach. Wie andere Buletten auch. Und jetzt: rein damit!
Die Vereinten Nationen (UN) haben ausgerechnet, dass die Zahl von zehn Milliarden Menschen auf der Erde ungefähr im Jahr 2050 erreicht sein wird. Im Augenblick sind es rund 7,6 Milliarden – und selbst diese bekommen wir schon heute nicht richtig satt: Die Welt- hungerhilfe zählt aktuell 815 Millionen Notleidende, die nicht genug Nahrung zum Leben haben. Das sind fast elf Prozent der Weltbevölkerung. Die Lösung: Tiere mit sechs bis acht Beinen oder deren Larven – die UN geben an, dass heute weltweit fast 2000 Insektenarten verzehrt werden. Vor allem im asiatischen Raum sowie in Afrika. In Europa spielen Insekten als Nahrung bislang so gut wie keine Rolle. Doch das könnte sich sehr bald ändern. Auch wenn die sensiblen Europäer von der rustikalen Mentalität südostasiatischer Menschen weit entfernt sind, die überhaupt kein Problem damit haben, Insekten quasi in ihrer natürlichen Form – von der Grille bis zur Spinne – zu verspeisen.
Die Darreichungsform der Insekten im Hotel in Uzwil ist im Vergleich natürlich deutlich harmloser. Denn der MehlwurmFleischklops erinnert in seiner optischen Erscheinung überhaupt nicht mehr an Insekten. Und der Geschmack? Das Mundgefühl entspricht in etwa dem eines Gemüsepuffers. Kein Wunder – besteht das Pattie neben den fein geriebenen Mehlwürmern aus Getreide und Gemüse. Der kulinarische Selbstversuch fällt ein wenig enttäuschend aus: Denn das Fleischküchle weist überhaupt keinen besonderen Eigengeschmack auf. Das stärkste Aroma stammt von der süß-scharfen Asia-Soße. Wegen seiner kulinarischen Akzente muss also niemand zum Mehlwurm greifen.
Wegen seiner klimaschonenden Aspekte allerdings schon, wie die Welternährungsorganisation (FAO) angibt: Während bei Entstehung von einem Kilo Rindfleisch 175 Kilo Treibhausgase freigesetzt werden, sind es beim Mehlwurm lediglich 14. Auch beim Wasserverbrauch hat der Wurm die Nase vorn, denn das Rind benötigt pro Kilo Fleischproduktion 15 000 Liter, die Würmer nur 4000. Ähnlich sieht die Bilanz beim Flächenund Futterverbrauch aus. Während jedes Kilo Kuh bei seiner Entstehung acht Kilo Futter benötigt, sind es bei den Würmern nur zwei. Am Ende liefern Rind und Wurm pro Kilo ähnlich viel Protein. Mit einem Wort: Nachhaltigkeit und Effizienz eines Mehlwurms liegt um ein Vielfaches höher als bei der Kuh.
Insekten im Supermarkt
Damit argumentiert auch das junge Unternehmen Essento aus der Schweiz. Die Produkte der Firma sind bereits in einer Reihe von CoopSupermärkten zu finden. So auch in Winterthur, wo die Verkäuferin ein breites Grinsen aufsetzt, wenn sie nach den Insekten-Lebensmitteln gefragt wird: „Gleich da hinten bei den vegetarischen Hamburgern hängen die“, sagt die junge Frau und berichtet, dass insbesondere junge Kunden das Angebot gerne annehmen, wenn von einem Ansturm auch keine Rede sein könne, denn: „Die Sachen sind sehr teuer.“In der Tat: Beim Testkauf schlägt die 160-Gramm-Packung Insekten-Fleischbällchen mit umgerechnet 7,60 Euro zu Buche. Damit spielen sie in einer ähnlichen Preisklasse wie zum Beispiel Bio-Rinderfilet. Dass der Trend zu Nahrungsinsekten trotzdem in aller Munde ist, belegt auch die Grüne Woche in Berlin, wo das Thema heuer viel Raum einnimmt.
Essento betont die Nachhaltigkeit seiner Produkte. Im Augenblick gibt es allerdings nur vier verschiedene Insekten-Lebensmittel im Sortiment: die Burger-Patties, an Falafel erinnernde Insektenfleischbällchen, eine Art Müsliriegel sowie Wanderheuschrecken in Form von Spießchen. Sie stellen die Ausnahme im Angebot dar, weil sie nicht stark verarbeitet sind, sondern weitgehend naturbelassen und also als Heuschrecken sofort erkennbar. In der Schweiz sind seit Mai 2017 Mehlwürmer, Wanderheuschrecken und Grillen als Lebensmittel offiziell zugelassen.
In Deutschland ist die Gesetzeslage anders: Aktuell dürfen keine Insekten als Lebensmittel verkauft werden. Dieses Jahr könnte sich das aber ändern. Seit dem 1. Januar gilt in der gesamten Europäischen Union (EU) eine neue Verordnung, die die Zulassung neuer Lebensmittel – dazu zählen auch Insekten – vereinfachen soll. Wer essbare Insekten in Deutschland anbieten will, muss dazu nachweisen, dass sie gesundheitlich unbedenklich sind.
Bisher war unklar, ob auch ganze Tiere als neue Lebensmittel gelten können, und die Zulassung für ein Lebensmittel galt nur für den Antragsteller. Seit diesem Jahr gilt ein genehmigter Antrag für alle Anbieter in der EU, die sich an die Bedingungen des Antrags halten. Wer nachweist, dass bestimmte Insekten in anderen Ländern seit mindestens 25 Jahren sicher verzehrt werden, kann sogar noch einfacher eine Zulassung bekommen.
Tierrechteorganisationen sowie die Verfechter vegetarischer oder veganer Ernährung lehnen den Verzehr von Insekten nicht nur aus ethischen Gründen ab, sondern weil es aus deren Sicht immer noch am besten sei, das lebensnotwendige Eiweiß aus Pflanzen zu generieren, insbesondere durch Hülsenfrüchte wie Linsen oder Bohnen. Dazu kommt ein weiterer Aspekt: Mit der massenhaften Zucht von Insekten, wie sie nötig wäre, um tatsächlich ein fester Bestandteil unserer Nahrung zu werden, hat bisher kaum jemand Erfahrung.
Heinrich Katz züchtet in Baruth bei Brandenburg bereits seit 2006 industriell Insekten für Tierfutter. Mehrere Millionen Fliegenlarven winden sich in den sogenannten Bioreaktoren der Hermetia Baruth GmbH. Die Maden isst der Welzheimer auch selbst. Mit der Zucht seiner Soldatenfliegen hat Katz keine Probleme. Die Angst vieler Behörden, die Tiere könnten unkontrolliert ausbrechen oder Krankheiten entwickeln, kann er nicht bestätigen. „Die Larven leben in der Natur unter sehr rauen Bedingungen und müssen es dort aushalten. Wir hatten noch nie eine bakterielle Erkrankung unter den Tieren“, sagt er. Selbst wenn eine Generation an Larven krank werden würde, Katz könne die betreffende Charge bei einem Krankheitsbefall einfach aussortieren. Denn die Tiere werden getrennt in Wannen gehalten und ein Lebenszyklus dauert nur etwa zehn Tage. „ Selbst bei einem Massenausbruch, wenn zehn Millionen Fliegen ausbrechen, würde nichts passieren. Die Fliegen übertragen keine Krankheiten“, erklärt Katz. Bei Grillen oder Heuschrecken sei das etwas anderes. Die seien nicht so genügsam wie Maden, die in ihrer natürlichen Umgebung in Fäkalien leben. Wenn die Bedingungen nicht perfekt sind, könnten einzelne Tiere sterben, anfangen zu verwesen und in die Produktion geraten. „Die müssten auch bei Millionen Tieren sehr sauber getrennt werden“, sagt Katz. Die Haltung von mehreren Millionen Insekten sei aber für die Tiere kein Problem. Vier Millionen Larven leben bei Hermetia auf 70 Quadratmetern. „Selbst wenn sie mehr Platz haben, rutschen sie wieder zusammen“, beobachtet der Züchter. Schließlich treten viele Insektenarten auch in der Natur in Schwärmen auf, dementsprechend sei eine Massenhaltung auch in Gefangenschaft kein Problem. In Europa würden Insekten als Lebensmittel allerdings eine Nischenerscheinung bleiben, vermutet Katz. Er sieht die Zukunft der Insekten nicht in der menschlichen, sondern in der Tierernährung.
Mehr als eine Mutprobe?
Nach dem jüngst veröffentlichten Fleischatlas, an dem auch BUND und Heinrich-Böll-Stiftung beteiligt sind, ist klar, dass der Verzehr von Insekten bei uns kaum über das Stadium von skurrilen Mutproben hinausgehen wird. Insekten seien eine Alternative für arme Menschen in anderen Ländern, aber hierzulande brauche man sie nicht, weil es keinen Proteinmangel gebe.
Apropos Mutproben: Diese kommen regelmäßig dann kurzfristig in Mode, wenn bei RTL wieder das Dschungelcamp läuft, das als Fernseh-Sammelbecken für überwiegend abgehalfterte Prominente dient. Zentraler Bestandteil der Sendung: der Verzehr möglichst ekelerregender Sachen – bis hin zu vornehmlich noch lebenden Insekten. Die neue Staffel des Dschungelcamps startet heute Abend um 21.15 Uhr. Wie die Würmer den Redakteuren schmecken, sehen Sie im Video unter www.schwäbische.de/mehlwurm