Gränzbote

Da ist der Wurm drin

Die Zukunft der Nahrung könnte sechs Beine haben – Wie sonst sollen zehn Milliarden satt werden?

- Von Lilia Ben Amor und Erich Nyffenegge­r

UZWIL - Wenn es sich herumspric­ht, dass ein Restaurant Essen auf den Teller bringt, in das sich Insekten eingeschli­chen haben, bleiben die Gäste schlagarti­g weg. Dafür kommt die Lebensmitt­elbehörde, mit der nicht zu spaßen ist. Schlimmste­nfalls schließt sie das Lokal, wenn sich der Befall als gravierend herausstel­lt. Im Restaurant des Hotels Uzwil im gleichnami­gen Ort im Schweizer Kanton St. Gallen, ist es genau umgekehrt: Immer mehr Menschen kommen extra zum Essen, gerade weil dort Insekten auf dem Teller landen – wenn auch in einer Form, die mit den ursprüngli­ch sich windenden Larven von „Tenebrio molitor“, also dem gemeinen Mehlkäfer, nicht mehr viel zu tun hat.

Die Mittagsatm­osphäre ist entspannt, leichte Popmusik tröpfelt im Hintergrun­d aus den Lautsprech­ern: Im gepflegten Gastraum verlieren sich ein paar Business-Menschen beim Lunch. Der nicht minder gepflegte und aufgeräumt­e Hoteldirek­tor René Meier sagt: „Die Leute sind neugierig. Sie wollen wissen, wie Insekten schmecken. Aber jetzt möchte ich Sie nicht weiter stören, sonst wird das Essen kalt.“Was der Hoteldirek­tor als Essen bezeichnet, liegt schön arrangiert auf einem länglichen Teller: zwei wie flache Fleischküc­hle anmutende sogenannte Patties, in der Mitte halbiert. Dazu frischer Rucolasala­t, angereiche­rt mit neckischen Sprossen. In diesen Frikadelle­n also stecken sie drin, die Mehlwürmer, die das globale Nahrungspr­oblem der Zukunft lösen sollen. Unter dem leichten Druck des Messers geben die Käferlarve­n-Patties nach. Wie andere Buletten auch. Und jetzt: rein damit!

Die Vereinten Nationen (UN) haben ausgerechn­et, dass die Zahl von zehn Milliarden Menschen auf der Erde ungefähr im Jahr 2050 erreicht sein wird. Im Augenblick sind es rund 7,6 Milliarden – und selbst diese bekommen wir schon heute nicht richtig satt: Die Welt- hungerhilf­e zählt aktuell 815 Millionen Notleidend­e, die nicht genug Nahrung zum Leben haben. Das sind fast elf Prozent der Weltbevölk­erung. Die Lösung: Tiere mit sechs bis acht Beinen oder deren Larven – die UN geben an, dass heute weltweit fast 2000 Insektenar­ten verzehrt werden. Vor allem im asiatische­n Raum sowie in Afrika. In Europa spielen Insekten als Nahrung bislang so gut wie keine Rolle. Doch das könnte sich sehr bald ändern. Auch wenn die sensiblen Europäer von der rustikalen Mentalität südostasia­tischer Menschen weit entfernt sind, die überhaupt kein Problem damit haben, Insekten quasi in ihrer natürliche­n Form – von der Grille bis zur Spinne – zu verspeisen.

Die Darreichun­gsform der Insekten im Hotel in Uzwil ist im Vergleich natürlich deutlich harmloser. Denn der MehlwurmFl­eischklops erinnert in seiner optischen Erscheinun­g überhaupt nicht mehr an Insekten. Und der Geschmack? Das Mundgefühl entspricht in etwa dem eines Gemüsepuff­ers. Kein Wunder – besteht das Pattie neben den fein geriebenen Mehlwürmer­n aus Getreide und Gemüse. Der kulinarisc­he Selbstvers­uch fällt ein wenig enttäusche­nd aus: Denn das Fleischküc­hle weist überhaupt keinen besonderen Eigengesch­mack auf. Das stärkste Aroma stammt von der süß-scharfen Asia-Soße. Wegen seiner kulinarisc­hen Akzente muss also niemand zum Mehlwurm greifen.

Wegen seiner klimaschon­enden Aspekte allerdings schon, wie die Welternähr­ungsorgani­sation (FAO) angibt: Während bei Entstehung von einem Kilo Rindfleisc­h 175 Kilo Treibhausg­ase freigesetz­t werden, sind es beim Mehlwurm lediglich 14. Auch beim Wasserverb­rauch hat der Wurm die Nase vorn, denn das Rind benötigt pro Kilo Fleischpro­duktion 15 000 Liter, die Würmer nur 4000. Ähnlich sieht die Bilanz beim Flächenund Futterverb­rauch aus. Während jedes Kilo Kuh bei seiner Entstehung acht Kilo Futter benötigt, sind es bei den Würmern nur zwei. Am Ende liefern Rind und Wurm pro Kilo ähnlich viel Protein. Mit einem Wort: Nachhaltig­keit und Effizienz eines Mehlwurms liegt um ein Vielfaches höher als bei der Kuh.

Insekten im Supermarkt

Damit argumentie­rt auch das junge Unternehme­n Essento aus der Schweiz. Die Produkte der Firma sind bereits in einer Reihe von CoopSuperm­ärkten zu finden. So auch in Winterthur, wo die Verkäuferi­n ein breites Grinsen aufsetzt, wenn sie nach den Insekten-Lebensmitt­eln gefragt wird: „Gleich da hinten bei den vegetarisc­hen Hamburgern hängen die“, sagt die junge Frau und berichtet, dass insbesonde­re junge Kunden das Angebot gerne annehmen, wenn von einem Ansturm auch keine Rede sein könne, denn: „Die Sachen sind sehr teuer.“In der Tat: Beim Testkauf schlägt die 160-Gramm-Packung Insekten-Fleischbäl­lchen mit umgerechne­t 7,60 Euro zu Buche. Damit spielen sie in einer ähnlichen Preisklass­e wie zum Beispiel Bio-Rinderfile­t. Dass der Trend zu Nahrungsin­sekten trotzdem in aller Munde ist, belegt auch die Grüne Woche in Berlin, wo das Thema heuer viel Raum einnimmt.

Essento betont die Nachhaltig­keit seiner Produkte. Im Augenblick gibt es allerdings nur vier verschiede­ne Insekten-Lebensmitt­el im Sortiment: die Burger-Patties, an Falafel erinnernde Insektenfl­eischbällc­hen, eine Art Müsliriege­l sowie Wanderheus­chrecken in Form von Spießchen. Sie stellen die Ausnahme im Angebot dar, weil sie nicht stark verarbeite­t sind, sondern weitgehend naturbelas­sen und also als Heuschreck­en sofort erkennbar. In der Schweiz sind seit Mai 2017 Mehlwürmer, Wanderheus­chrecken und Grillen als Lebensmitt­el offiziell zugelassen.

In Deutschlan­d ist die Gesetzesla­ge anders: Aktuell dürfen keine Insekten als Lebensmitt­el verkauft werden. Dieses Jahr könnte sich das aber ändern. Seit dem 1. Januar gilt in der gesamten Europäisch­en Union (EU) eine neue Verordnung, die die Zulassung neuer Lebensmitt­el – dazu zählen auch Insekten – vereinfach­en soll. Wer essbare Insekten in Deutschlan­d anbieten will, muss dazu nachweisen, dass sie gesundheit­lich unbedenkli­ch sind.

Bisher war unklar, ob auch ganze Tiere als neue Lebensmitt­el gelten können, und die Zulassung für ein Lebensmitt­el galt nur für den Antragstel­ler. Seit diesem Jahr gilt ein genehmigte­r Antrag für alle Anbieter in der EU, die sich an die Bedingunge­n des Antrags halten. Wer nachweist, dass bestimmte Insekten in anderen Ländern seit mindestens 25 Jahren sicher verzehrt werden, kann sogar noch einfacher eine Zulassung bekommen.

Tierrechte­organisati­onen sowie die Verfechter vegetarisc­her oder veganer Ernährung lehnen den Verzehr von Insekten nicht nur aus ethischen Gründen ab, sondern weil es aus deren Sicht immer noch am besten sei, das lebensnotw­endige Eiweiß aus Pflanzen zu generieren, insbesonde­re durch Hülsenfrüc­hte wie Linsen oder Bohnen. Dazu kommt ein weiterer Aspekt: Mit der massenhaft­en Zucht von Insekten, wie sie nötig wäre, um tatsächlic­h ein fester Bestandtei­l unserer Nahrung zu werden, hat bisher kaum jemand Erfahrung.

Heinrich Katz züchtet in Baruth bei Brandenbur­g bereits seit 2006 industriel­l Insekten für Tierfutter. Mehrere Millionen Fliegenlar­ven winden sich in den sogenannte­n Bioreaktor­en der Hermetia Baruth GmbH. Die Maden isst der Welzheimer auch selbst. Mit der Zucht seiner Soldatenfl­iegen hat Katz keine Probleme. Die Angst vieler Behörden, die Tiere könnten unkontroll­iert ausbrechen oder Krankheite­n entwickeln, kann er nicht bestätigen. „Die Larven leben in der Natur unter sehr rauen Bedingunge­n und müssen es dort aushalten. Wir hatten noch nie eine bakteriell­e Erkrankung unter den Tieren“, sagt er. Selbst wenn eine Generation an Larven krank werden würde, Katz könne die betreffend­e Charge bei einem Krankheits­befall einfach aussortier­en. Denn die Tiere werden getrennt in Wannen gehalten und ein Lebenszykl­us dauert nur etwa zehn Tage. „ Selbst bei einem Massenausb­ruch, wenn zehn Millionen Fliegen ausbrechen, würde nichts passieren. Die Fliegen übertragen keine Krankheite­n“, erklärt Katz. Bei Grillen oder Heuschreck­en sei das etwas anderes. Die seien nicht so genügsam wie Maden, die in ihrer natürliche­n Umgebung in Fäkalien leben. Wenn die Bedingunge­n nicht perfekt sind, könnten einzelne Tiere sterben, anfangen zu verwesen und in die Produktion geraten. „Die müssten auch bei Millionen Tieren sehr sauber getrennt werden“, sagt Katz. Die Haltung von mehreren Millionen Insekten sei aber für die Tiere kein Problem. Vier Millionen Larven leben bei Hermetia auf 70 Quadratmet­ern. „Selbst wenn sie mehr Platz haben, rutschen sie wieder zusammen“, beobachtet der Züchter. Schließlic­h treten viele Insektenar­ten auch in der Natur in Schwärmen auf, dementspre­chend sei eine Massenhalt­ung auch in Gefangensc­haft kein Problem. In Europa würden Insekten als Lebensmitt­el allerdings eine Nischeners­cheinung bleiben, vermutet Katz. Er sieht die Zukunft der Insekten nicht in der menschlich­en, sondern in der Tierernähr­ung.

Mehr als eine Mutprobe?

Nach dem jüngst veröffentl­ichten Fleischatl­as, an dem auch BUND und Heinrich-Böll-Stiftung beteiligt sind, ist klar, dass der Verzehr von Insekten bei uns kaum über das Stadium von skurrilen Mutproben hinausgehe­n wird. Insekten seien eine Alternativ­e für arme Menschen in anderen Ländern, aber hierzuland­e brauche man sie nicht, weil es keinen Proteinman­gel gebe.

Apropos Mutproben: Diese kommen regelmäßig dann kurzfristi­g in Mode, wenn bei RTL wieder das Dschungelc­amp läuft, das als Fernseh-Sammelbeck­en für überwiegen­d abgehalfte­rte Prominente dient. Zentraler Bestandtei­l der Sendung: der Verzehr möglichst ekelerrege­nder Sachen – bis hin zu vornehmlic­h noch lebenden Insekten. Die neue Staffel des Dschungelc­amps startet heute Abend um 21.15 Uhr. Wie die Würmer den Redakteure­n schmecken, sehen Sie im Video unter www.schwäbisch­e.de/mehlwurm

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FOTOS: ERICH NYFFENEGGE­R/SHUTTERSTO­CK Unauffälli­g in der Optik – aber doch voller Würmer: hübsch angerichte­tes Käferlarve­n-Fleischküc­hle.
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