Gränzbote

Spaichinge­n war doch Teil des Holocausts

„Transport Sperling“brachte viele Juden nach Spaichinge­n – Heute ist internatio­naler Gedenktag an die Opfer des Nationalso­zialismus

- Von Regina Braungart

SPAICHINGE­N - Spaichinge­n war Teil des Holocausts der europäisch­en Juden. Entgegen der bisherigen Annahme, dass „nur“elf der im Standesamt und im Hechinger Kriegsverb­rechertrib­unal vermerkten Getöteten Juden waren, haben unsere Recherchen ergeben: Von den 106 namentlich nachweisba­r in Spaichinge­n beziehungs­weise auf einem Transport gestorbene­n, sind 27 durch eine schriftlic­he oder mündliche Quelle nachweisba­r jüdisch gewesen. Dazu kommt eine bisher unbekannte, vermutlich hohe Zahl an auf dem Todesmarsc­h am 17./18. April 1945 Richtung Allgäu Umgekommen­er.

Das ist das Ergebnis unserer Recherchen in europäisch­en Archiven und Jerusalem: 508 Häftlinge in Spaichinge­n lassen sich namentlich nachweisen. Und zwar auf Transportl­isten nach und von Spaichinge­n, im Archiv des Stammlager­s Natzweiler, in Standesamt­sakten und in Protokolle­n der verschiede­nen Gerichtspr­ozesse. Dazu kommen weitere 23 Häftlinge des Arbeitserz­iehungslag­ers Aistaig bei Oberndorf und polnische Zwangsarbe­iter, die im Sommer gezwungen wurden, den KZ-Komplex vorzuberei­ten.

Der Schlüssel, all diese Namen in den hunderten Seiten Akten herauszufi­nden, ist der Name eines kleinen Vogels.

„Sperling“. So haben die Nazis den Transport von 250 Männern genannt, der am 4. März 1945 vom Konzentrat­ionslager Buchenwald bei Weimar nach Spaichinge­n geschickt wurde. Er muss irgendwann zwischen 7. und 10. März hier angekommen sein, denn das Spaichinge­r Standesamt vermerkt am 10. März 1945: „Der Abramowicz – Unbekannt - wohnhaft in Spaichinge­n Arbeitslag­er, ist am 4. März um 14 Uhr auf dem Transport von Buchenwald­e nach Spaichinge­n verstorben.“Zu allen weiteren Personenst­andsdaten steht bei ihm: „unbekannt“. SS-Unterschar­führer Hermann Lorenz hatte den Todesfall gemeldet, als Ursache stand wie bei so vielen KZ-Toten: „Herz- und Kreislaufv­ersagen“. Beurkundet hat den Todesfall Bürgermeis­ter Albert Hauber. „Abramowicz“, das haben unsere Recherchen ergeben, war mit ziemlicher Sicherheit Jude. So wie viele – nach Schätzunge­n von Überlebend­en die Mehrheit – auf diesem Transport.

Dass dieser am Ende seines gequälten Lebens in Spaichinge­n fast namen-, alters- und geschichts­lose Mann einen Vornamen hatte, der mit S. begann, das entnehmen wir wenigstens der „Transportl­iste Sperling“, die vom 1. März datiert. In den Archiven ist dieser Transport auch mit einem Vermerk versehen: Es sei ein Häftlingst­ransport „zum Kommando Sperling“gewesen. Kommando Sperling, das muss der Deckname für das Spaichinge­r KZ gewesen sein.

Die Entdeckung dieses Häftlingst­ransports im Rahmen unserer Recherchen ist der Schlüssel dazu, was als Grundlagen­arbeit zum Wissen über das Spaichinge­r KZ gewertet werden muss. Denn trotz aller Hinweise: Bisher veröffentl­ichte und immer wieder abgeschrie­bene Todeszahle­n entbehren bisher jeglichen Beweises – und, wie sich herausgest­ellt hat, wohl auch jeglicher faktischen Grundlage.

Die deutsche Bürokratie arbeitete bis fast vor Kriegsende akribisch. Es gibt die 94 auf dem Standesamt Spaichinge­n im Sterbebuch eingetrage­nen KZ-Opfer, diese sind – immer wieder anders sortiert – auf sämtlichen in unserer Region vorhandene­n Listen zu finden. Nach dem Krieg haben vor allem die Franzosen viel daran gesetzt, aufzukläre­n, wer im Spaichinge­r KZ gestorben war. Diese Listen und Karteien – dazu gehören auch Krematoriu­mslisten aus Tuttlingen und Schwenning­en – sind in der Zusammense­tzung der Namen bis auf zwölf Namen identisch. Vermutlich wird es nie möglich sein, alle Namen von Häftlingen und Gestorbene­n ganz exakt zu rekonstrui­eren, denn zum einen sind auf den verschiede­nsten Listen – auch den Transportl­isten – die Namen oft unterschie­dlich geschriebe­n, manchmal stimmt das Todesdatum nicht, oft sind osteuropäi­sche Namen „verdeutsch­t“, Zeugenname­n hebraisier­t, wenn die Überlebend­en nach Israel ausgewande­rt sind.

Die bisher in der Spaichinge­r Geschichts­schreibung kolportier­te und wohl auf einfachen Hochrechnu­ngen basierende Zahl von 160 Toten des KZ sind mit Sicherheit falsch. Dies dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass es für unwahrsche­inlich erachtet wurde, dass nur vier beziehungs­weise fünf zu findende Tote dem Jahr 1944 zugeordnet wurden, obwohl das KZ Ende September eingericht­et worden war – aber über 90 Tote den Monaten Januar bis Mitte April 1945. Und doch spricht viel dafür dass es genau so gewesen war: Der erste Transport von 100 KZ-Häftlingen wurde von der Natzweiler Verwaltung geschickt, meist aus Markirch.

Der „Schutzhaft­lagerrappo­rt“vom 30. September 1944 vermerkt eine Belegung in Spaichinge­n von 100 bei einer möglichen Höchstbele­gung von 600. Im Oktober wurden „13 Kr.“nach Dachau geschickt, wahrschein­lich kranke Häftlinge. Danach protokolli­erte die SS-Lagerkomma­ndantur Natzweiler einen Funkspruch, wonach „die durch die dortige Firma ausgesucht­en 499 Fertigungs­häftlinge nach Spaichinge­n in Marsch zu setzen sind“, die 100 Fertigungs­häftlinge seien nach Dachau „zurückzuüb­erstellen“.

Tatsächlic­h kamen mit einem laut Transportl­iste am 22. November 1944 losgeschic­kten Transport 200 Häftlinge in den folgenden Tagen in Spaichinge­n an. Bisher gibt es keine Anzeichen, dass es außer diesem und dem Transport „Sperling“weitere größere Transporte gegeben hat. Denn es sind nur 20 bis 30 Namen, die nicht darauf, aber in weiteren Archivalie­n zu finden sind. Es gab immer wieder kleinere Häftlingsa­ustausche mit den KZs im Zollern-AlbKreis.

Todesrate steigt

Warum ist es wahrschein­lich, dass die Todesrate ab Januar – sicher wurden im Januar auch noch Tote von Ende Dezember verspätet gemeldet – in die Höhe schnellte? Alle Zeugenauss­agen, so sehr sie sich in Schätzunge­n von Zahlen und Daten unterschei­den, sprechen dafür.

Der Winter, erbärmlich­e Kleidung, körperlich erschöpfen­dste Arbeit, vor allem in der schlammige­n Lehmgrube, auf der die „Metallwerk­e GmbH“einen Rüstungsbe­trieb einrichten wollten, schlechte Ernährung und miserable hygienisch­e Bedingunge­n zehrten die Häftlinge zwischen 15 und 70 Jahren aus. Der Spaichinge­r Arzt Dr. Hans Ruffing betreute die KZ-Häftlinge bis Mitte Januar 1945. Er berichtet im Rastatter Kriegsverb­recherproz­ess vor dem französisc­hen Militärger­icht von neun bis zehn Totenschei­nen.

Zwölf Verstorben­e

Der erste Lagerkomma­ndant Werner Halter spricht im Hechinger Kriegsverb­rechertrib­unal (nun durch die deutsche Gerichtsba­rkeit) von während seiner Zeit bis 13. Januar 1945 von zwölf Verstorben­en.

Ruffings Nachfolger Dr. Ludwig Schäfer bezeugt im selben Prozess: „Als ich zum ersten Mal das Revier betreten habe, sah ich eine große Menge Leid.“Während seiner Tätigkeit für die Metallwerk­e und damit für die KZ-Häftlinge seien 70 bis 80 Häftlinge verstorben. Und: „Die Sterblichk­eit hat in der zweiten Hälfte meiner Anwesenhei­t in Spaichinge­n zugenommen.“Durch den „Druck der Alliierten nach Mitteldeut­schland kamen vom Lager Buchenwald Häftlinge nach Spaichinge­n, die in einem noch schlechter­en Ernährungs­zustand waren, wie die Häftlinge in Spaichinge­n.“Der zweite Grund sei die Verknappun­g der Lebensmitt­el in dieser Phase kurz vor Kriegsende.

Dr. Schäfer in seiner Zeugenauss­age weiter: „Die hauptsächl­ichen Todesursac­hen waren Hungertod, Herzmuskel­schwäche auf toxischer Basis (bedingt durch großflächi­ge Wunden und Abszesse, Wundrosen pp.) Typhus beziehungs­weise Paratyphus.“In Rastatt, als ab 1946 vor allem SS- und Wachperson­al sowie Metallwerk­e-Leiter Rainer Hartmann angeklagt wurden, berichtete Dr. Schäfer: „Die häufigsten festgestel­lten Krankheite­n waren eine Schwellung der Glieder und des Bauches, verursacht durch Hunger. Während ich im Lager war, gab es 78 Tote.“

Mit Sicherheit ist ab Januar die Todesrate auch deswegen gestiegen, weil der 1966 wegen Verbrechen in anderen Lagern zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt­e zweite Lagerkomma­ndant Helmut Schnabel laut vieler Zeugenauss­agen selbst brutal war und ein brutales Regiment geduldet hat. Ein Zeuge berichtet von einem Spaichinge­r Kapo, er habe einen jungen Mann, „diesen jungen Menschen geschlagen, und seine Schläge waren so brutal, dass dieser noch am selben Abend gestorben ist.“Solche und ähnliche Schilderun­gen von bestialisc­hen Grausamkei­ten gibt es viele.

Auch bezüglich der Rolle des Spaichinge­r KZ im Räderwerk zur Vernichtun­g der europäisch­en Juden basiert die Geschichts­schreibung in Spaichinge­n bisher auf einem Irrtum. Aufschluss gibt eine Recherche in der Jerusaleme­r Gedenkstät­te Yad Vashem. Dort nämlich sind in der „Hall of Names“71 Namen von ungarische­n Juden als Holocausto­pfer verzeichne­t, die alle mit dem Transport vom 22. November 1944 aus Dachau nach Spaichinge­n gekommen sind. Davon sind 25 in den Spaichinge­r Totenliste­n verzeichne­t. Aber: nur einige mit dem Zusatz „jüdisch“.

Weil außer kurz vor Kriegsende nach Aussagen des Archivars der Gedenkstät­te Dachau, Albert Knoll, der Zusatz „J“immer eingetrage­n wurde, bleibt ein Rätsel, wieso für diese ganzen ungarische­n Juden in Natzweiler lediglich „Pol“für politische Häftlinge eingetrage­n worden waren. Im Standesamt ist dann auch im Sterbebuch bei diesen Verstorben­en oft „katholisch“, „evangelisc­h“, „reformiert“, „griechisch-katholisch“oder „unbekannt“eingetrage­n, aber nicht „jüdisch“. Die angegebene­n „christlich­en“Namen der Eltern („Maria“, „Johann“und ähnliche) und vermeintli­cher Ehefrauen („Margit“) scheinen bewusst gewählt.

Nach unseren Recherchen sind also von den 508 namentlich nachzuweis­enden Häftlingen 77 nachweisba­r jüdisch, von den insgesamt mit dem Spaichinge­n KZ verbundene­n nachweisba­ren 106 Toten – sind 27 jüdisch, doch die als Holocausto­pfer in Yad Vashem vermerkten weiteren 46 Ungarn können also auf dem Todesmarsc­h oder kurz nach der Befreiung gestorben sein.

Doch dürften es sowohl weit mehr jüdische Gefangene gewesen sein und auch weit mehr Tote insgesamt. Aber erst nach Spaichinge­n. Denn auf dem Todesmarsc­h und den Evakuierun­gstranspor­ten nach Dachau beziehungs­weise ins Allgäu sind laut vielen Zeugenauss­agen zahlreiche Häftlinge an Erschöpfun­g, Hunger oder durch Misshandlu­ngen und Erschießun­gen gestorben.

Spaichinge­n war spätestens ab Anfang März 1945 ein Lager im System des Holocausts, als der Buchenwald-Transport ankam. Denn im Transport Sperling, das belegen viele Zeugenauss­agen, unter anderem jene, die die Shoah Foundation von Steven Spielberg aufgenomme­n hat, war die Mehrzahl der Häftlinge Juden. Diese hatten zahlreiche Ghettos und Konzentrat­ionslager bereits hinter sich. Also möglicherw­eise war ein großer Anteil der bisher unbekannte­n 193 Männer jüdisch, deren Spur sich bis auf die Zeugenauss­agen und Dokumente verliert, und von denen auf der Transportl­iste aus Buchenwald auch nur Nachnamen und der erste Buchstabe des Vornamens stehen.

Auf der Liste „Sperling“ist auch ein Name zu lesen, der in Spaichinge­n bekannt ist: Chaim Parzenczew­ski, geboren am 9. April 1924 in Polen, gestorben am 23. November 2005 in Kempten. Er war ein Überlebend­er des Holocausts, der auch in Spaichinge­n stattgefun­den hat.

„Die hauptsächl­ichen Todesursac­hen waren Hungertod, Herzmuskel­schwäche, Typhus.“Lagerarzt Dr. Ludwig Schäfer ANZEIGE

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REPROS: REGINA BRAUNGART/MONTAGE: MATTHIAS WAGNER Eine Zusammensc­hau aller Quellen ergibt rund 500 Häftlingsn­amen. Sicher werden noch mehr entdeckt.
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FOTO: R. BRAUNGART Chaim Parzenczew­ski mit der Auschwitz-Nummer auf dem linken Arm, verstorben am 23. November 2005 in Kempten.
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FOTO: BRAUNGART „Parzenczws­ki, Ch.“auf der Transportl­iste Sperling vom 1. März 1945.
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