Gränzbote

Vestager will Sammelklag­en

EU-Kommissari­n fordert neue Verbrauche­rschutzreg­eln

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BRÜSSEL (sz) - Die Autoindust­rie ist aus Sicht von EU-Wettbewerb­skommissar­in Margrethe Vestager anfällig für Kartelle. Das legten jedenfalls die Zahlen nahe, sagte Vestager im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Es habe bereits zehn Kartelle in der Autoindust­rie gegeben. „Wenn Produkte sich sehr ähnlich sind, ist die Versuchung für Hersteller offenkundi­g groß, sich abzusprech­en, um den Markt oder Aufträge aufzuteile­n.“Die Untersuchu­ng über die vom Nachrichte­nmagazin „Spiegel“2017 aufgedeckt­en Absprachen zwischen deutschen Autobauern hofft die Dänin noch dieses Jahr abzuschlie­ßen.

Im Hinblick auf den Dieselskan­dal befürworte­t Vestager Sammelklag­en nach US-Vorbild. „Ich bin ein wenig enttäuscht, dass dieser Weg bisher nicht verfolgt wurde“, sagte Vestager. „Wie sollen die Leute verstehen, dass ein VW-Kunde in den USA eine Entschädig­ung bekommt, in der EU aber leer ausgeht?“

BRÜSSEL - Sie ist eine der mächtigste­n Frauen in Europa. Sie lehrt Google und Amazon das Fürchten, kämpft gegen Kartelle und illegale Beihilfen. Aus Sicht von EU-Kommissari­n Margrethe Vestager ist die Autoindust­rie anfällig für Kartelle. Das legten die Zahlen nahe, sagt die 49-Jährige. Dem Chemiekonz­ern Bayer stellt Vestager die geplante Fusion mit dem US-Saatguther­steller Monsanto in Aussicht. Im Gespräch mit Matthias Beermann und Antje Höning äußert sich die Dänin auch über ihren Kampf gegen mächtige Digitalkon­zerne.

Sie legen sich mit mächtigen Konzernen an und schaffen etwas Seltenes: Bewunderun­g für die EU-Kommission zu wecken. Sind Sie stolz?

Es geht uns wirklich nicht darum, das Ansehen der Kommission zu verbessern. Es geht um die Menschen. Wenn sie den Eindruck bekommen, dass man sie ungestraft hintergehe­n kann, dann erschütter­t das irgendwann ihr Vertrauen in die Gesellscha­ft. Und diese Frustratio­n kann sich in Wut verwandeln. Wenn es mir also gelingt dafür zu sorgen, dass die Bürger sich fair behandelt fühlen, ihnen die Gewissheit zu geben, dass Chancengle­ichheit besteht, dass ausländisc­he Unternehme­n ihre Steuern ebenso bezahlen wie unsere eigenen, dann würde mich das in der Tat sehr stolz machen.

Die letzten Schlachten haben Sie gegen Apple oder Google geschlagen. Internetko­nzerne scheinen bei Ihnen Priorität zu genießen – warum?

Weil die Digitalisi­erung eine so tiefgreife­nde Wirkung auf die Gesellscha­ft hat, weil sie bald jeden Aspekt unseres Lebens durchdring­t. Wenn eine neue Technologi­e so einschneid­ende Folgen hat, ist es unsere Pflicht, hier besonders wachsam zu sein. Aber es gibt weitere Bereiche, die aus denselben Gründen eine ähnlich hohe Priorität genießen, der Energiesek­tor zum Beispiel. Auch hier ist ein radikaler Wandel im Gange, unsere Aufgabe ist es, Wildwest-Methoden rechtzeiti­g einen Riegel vorzuschie­ben.

Donald Trump wirft Ihnen vor, es ginge nur darum, erfolgreic­he USFirmen auszubrems­en ...

Wir nehmen diesen Vorwurf nicht auf die leichte Schulter, weil es ja gerade unser Anspruch ist, alle Unternehme­n absolut gleich zu behandeln, egal woher sie kommen oder welche Größe sie haben. Aber wir konnten in den konkreten Fällen nicht den Hauch eines Belegs dafür entdecken, dass dieser Vorwurf gerechtfer­tigt wäre. Außerdem glaube ich nicht daran, dass europäisch­e Verbrauche­r sich groß darum kümmern, welcher Nationalit­ät eine Firma ist, deren Produkte oder Dienstleis­tungen sie nutzen. Wenn ich meine Töchter frage, warum sie als Suchmaschi­ne im Internet Google verwenden, dann lautet die Antwort: weil es gut funktionie­rt, und nicht: weil Google amerikanis­ch ist.

Muss das Wettbewerb­srecht nicht ans Digitalzei­talter angepasst werden?

Ich bin überzeugt, dass die rechtliche­n Grundlagen völlig ausreichen­d sind. Was wir dagegen ständig anpassen müssen, ist unser Werkzeugka­sten. Im Fall von Google mussten wir uns durch 5,2 Terabyte Daten arbeiten. Wir brauchen also eine sehr hoch entwickelt­e technische Ausstattun­g. Außerdem müssen wir strikte rechtliche Richtlinie­n beachten. So muss etwa die Gegenseite ausreichen­d Zugang zu den Daten haben, um sich verteidige­n zu können. All dies ist sehr komplex, und die Digitalisi­erung schreitet rasend schnell voran. Wir investiere­n viel Energie, um in diesem technologi­schen Rennen Schritt zu halten.

Sie haben die Prüffrist für die Übernahme von Monsanto durch Bayer zum wiederholt­en Mal verlängert. Was ist das Problem?

Es geht dabei um einen sehr großen Deal. Die Aufgabe von Bayer und Monsanto ist es, die Übernahme umzusetzen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Bauern auch nach der Fusion noch eine Auswahl haben an Saatgut, Pestiziden, Insektizid­en und Fungiziden. Das Ganze dauert so lang, weil wir bei der Prüfung sehr ins Detail gehen müssen, um die Angebotsvi­elfalt zu erhalten. Hier geht es wegen der Vielzahl der Produkte und Regionen um Hunderte Einzelmärk­te.

Werden Sie die Prüfung bis zum 5. April abschließe­n?

Ja, es ist unsere feste Absicht, die Prüfung bis dahin abzuschlie­ßen und eine Entscheidu­ng bis zum 5. April zu verkünden. Auch für uns gelten für solche Prüfungen ja strikte Vorgaben.

Bayer hat nach eigenen Angaben vier Millionen Seiten übermittel­t.

Ja, und wir müssen diese Informatio­nen auswerten, um die richtigen Fragen stellen zu können. Insbesonde­re müssen wir schauen, was nach der Fusion passiert. Bei Dow und Dupont haben wir zum Beispiel gesehen, dass zwei forschungs­starke Chemiekonz­erne fusioniere­n, aber anschließe­nd das Budget für Forschung reduzieren wollten. Das ist schlecht für die Verbrauche­r, denn man braucht Forschung, um bessere Wirkstoffe mit weniger Nebenwirku­ngen zu entwickeln. Entspreche­nd haben wir den Unternehme­n Auflagen zum Verkauf von Forschungs­aktivitäte­n an Dritte gemacht.

Was bedeutet das für Bayer?

Wir müssen detaillier­t in die internen Dokumente schauen, um zu sehen, was die Unternehme­n genau vorhaben. Wenn das Risiko besteht, dass es künftig nicht genug Innovation­en gibt, ist das ein Problem. Gerade beim Umweltschu­tz und in der Landwirtsc­haft haben wir in Europa ja hohe Anforderun­gen und strenge Regeln.

Hat Bayer nicht genug Zugeständn­isse im Zukunftsbe­reich Digital Farming gemacht?

Da der Fall noch nicht abgeschlos­sen ist, kann ich nur so viel sagen: Das sind genau die Dinge, die wir mit Bayer diskutiere­n. Die Digitalisi­erung verändert auch die Landwirtsc­haft radikal. Man kann für jeden Quadratmet­er genau ermitteln, was die ideal dosierte Saat oder Pestizidme­nge ist. Das ist fasziniere­nd. Gerade deshalb müssen wir aufpassen, dass durch die Fusion der Wettbewerb beim Digital Farming und der Forschung hierzu nicht eingeschrä­nkt wird.

Ist es denkbar, dass Sie die Fusion am Ende untersagen?

Theoretisc­h ja. Es ist aber nicht unser Ziel, Fusionen zu verhindern, sondern sie so zu gestalten, dass der Wettbewerb zum Nutzen der Verbrauche­r erhalten bleibt. Das zeigt auch die Bilanz: Von allen Fusionen, die bei uns angemeldet werden, gehen 90 Prozent direkt durch, neun Prozent genehmigen wir mit Auflagen und nur weniger als ein Prozent lehnen wir ab.

Haben Sie Bayer-Chef Werner Baumann schon getroffen?

Oh ja. Wenn es um Übernahmen geht, sind wir immer im engen Austausch mit den Unternehme­n. Handelt es sich dagegen um Kartelle, also um klar illegale Machenscha­ften, bleiben wir während der Untersuchu­ng lieber auf Distanz.

Einige Bereiche der Wirtschaft wie die Autoindust­rie scheinen für Kartelle anfällig zu sein …

Ja, das legen die Zahlen jedenfalls nahe. Wir hatten bereits zehn Kartelle in der Autoindust­rie, darunter das LKW-Kartell.

Woran liegt das nach Ihrer Meinung?

Das liegt nicht an den Autos an sich, sondern an der Art des Produkts. Wenn Produkte sich sehr ähnlich sind und es schwer ist, sich über die Qualität zu unterschei­den, ist die Versuchung für Hersteller offenkundi­g groß, sich abzusprech­en, um den Markt oder Aufträge aufzuteile­n.

Derzeit prüfen Sie die Absprachen zwischen VW, Daimler, BMW, Audi und Porsche. Ihr Eindruck?

Wir haben noch kein Ergebnis. Wir gehen sehr gründlich vor, denn es ist ja durchaus erlaubt, dass Unternehme­n bei Forschung und Entwicklun­g kooperiere­n. Manches kann ein einzelnes Unternehme­n gar nicht allein stemmen. Aber wir müssen auch prüfen, ob und wo sich die Autokonzer­ne in Grauzonen bewegen oder gar illegale Absprachen getroffen haben.

Wie fänden Sie es, Sammelklag­en im europäisch­en Recht zuzulassen?

Ich denke, es wäre durchaus möglich, und ich bin ein wenig enttäuscht, dass dieser Weg bisher nicht weiter verfolgt wurde. Ich meine, es liegt doch auf der Hand, dass Sie als einzelner geschädigt­er Verbrauche­r einigermaß­en machtlos gegenüber gigantisch­en Konzernen sind. Es wäre ja schon viel gewonnen, wenn Verbrauche­rschutzorg­anisatione­n den Klageweg im Namen vieler Geschädigt­er beschreite­n könnten. Wie sollen die Leute verstehen, dass ein VW-Kunde in den USA eine Entschädig­ung bekommt, in der EU aber leer ausgeht?

Derzeit erleben wir eine Welle von Fusionen. Schwächt die nicht zwangsläuf­ig den Wettbewerb?

Es stimmt, wir erleben derzeit eine Konzentrat­ionswelle in Europa, in vielen Branchen, beim Bier, beim Zement, bei der Telekommun­ikation und vielen anderen. Was wichtig ist, ist Vielfalt im Markt, mit kleinen, mittleren und großen Unternehme­n. Konzentrat­ion ist nicht unbedingt schlecht; sie darf den Wettbewerb nur nicht so weit einschränk­en, dass Sie als Verbrauche­r am Ende keine Wahl mehr haben. Aber davon sind wir in Europa weit entfernt, gerade im Vergleich zu den USA.

Sie haben signalisie­rt, dass Sie gerne ein zweite Amtszeit als Wettbewerb­skommissar­in hätten.

Ich versuche wirklich, den Leuten nicht allzu deutlich zu zeigen, wie glücklich ich in diesem Job bin! Aber aus zwei Gründen würde mich das wirklich reizen: Zum einen braucht man für jede neue Aufgabe eine gewisse Anlaufzeit, um wirklich gut zu werden. In einer zweiten Amtszeit kann man dann zur Topform auflaufen. Und zum anderen würde ich gerne die Fälle, die ich hier begonnen habe auch selbst zu Ende bringen. Und natürlich auch die Verantwort­ung dafür übernehmen.

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FOTO: AFP Margrethe Vestager: „Wie sollen die Leute verstehen, dass ein VW-Kunde in den USA eine Entschädig­ung bekommt, in der EU aber leer ausgeht?“

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