„Und dann lag der Säbel auf dem Rasen“
Ex-Spitzenschiedsrichter Knut Kircher referiert in Egesheim über die Lust am Entscheiden
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EGESHEIM - Fußball ist ein einfaches Spiel, sagt Knut Kircher. „Und deshalb quatscht jeder mit“, meinte der frühere Bundesliga- und FIFASchiedsrichter, der Freitag in der Gemeindehalle in Egesheim einen Vortrag über die „Lust am Entscheiden“gehalten hat. Der 49-Jährige erklärte, wie Entscheidungen in 90 Minuten zustande kommen und wie der Unparteiische sie vertreten muss.
So leicht wie es die „Millionen Nationaltrainer und Schiedsrichter“auf der Couch vor dem Fernseher haben es die Schiedsrichter nicht. Das, so Kircher, liege schon an den Voraussetzungen während eines Spieles. Ein Referee würde während der 90 Minuten zwischen zwölf und 14 Kilometer laufen. Bei einem Puls von 168 Schlägen. „Das ist aber nicht der Spitzenwert, sondern der Durchschnitt“, betonte Kircher, der seit 1986 Schiedsrichter ist und in 14 Jahren (2002 bis 2016) 244 BundesligaSpiele leitete. Weil das Organ während eines Spieles schon ordentlich pumpen muss, könne niemand sagen, der Schiedsrichter habe kein Herz für die Aktiven. „Wir haben sogar ein sehr großes Herz.“
In Bundesliga-Stadien so laut wie neben einem Düsenjäger
Bei den zu treffenden Entscheidungen sei nicht nur die eigene körperliche Belastung zu berücksichtigen. Denn unabhängig, ob richtig oder falsch: In einem Bundesliga-Stadion bekommt ein Spielleiter dauernd etwas auf die Ohren. „Die Stadien sind so schön konzipiert, dass sich der Schall in der Mitte des Spielfeldes bündelt“, meinte Kircher, der als Ingenieur in der Automobilbranche arbeitet. In Gelsenkirchen sei die Akustik einmal getestet worden. Bei der mit mehr als 60 000 Zuschauern befüllten Arena – „auf Schalke kommen allein 40 000 Fans, wenn eine neue Eckfahne eingeweiht wird“– wäre der Lärmpegel mit dem Start eines Düsenjägers vergleichbar. „Wenn man 100 Meter danebensteht“, sagte Kircher. Und anders als vor dem Fernseher habe der Schiedsrichter auch nur seine Perspektive und die seiner Assistenten. „Bei 26 Kameras pro Bundesliga-Spiel kann jeder sagen, das hätte er doch sehen müssen.“
Das Geschehen hat der Schiedsrichter ja auch im Blick. Allerdings, betonte Kircher, sei es mit der Auslegung der Vorschriften schwierig. Zwischen 250 und 300 Entscheidungen würde der Unparteiische in 90 Minuten treffen. Davon lägen nur bis zu 30 Prozent im „Schwarz-Weiß-Bereich“– also eindeutig durch das Regelwerk definiert. Der Rest sei Grauzone und dort der Ermessensspielraum gefragt, betonte Kircher, der immer seine Zuhörer einband und durch Anekdoten anschaulich erklärte. „Stellen Sie sich vor, ein Spieler trifft aus 80 Metern. Und dann ist der Jahrhundert-Torschütze so begeistert, dass er sich das Trikot auszieht. Wie ist das zu ahnden?“Mit der Gelben Karte, erhielt Kircher als Antwort zurück. „Richtig. Dann ist der Spieler aber so begeistert von seinem Treffer, dass er vor der Rückkehr aufs Spielfeld noch auf den Zaun zu den Fans springt. Und der Schiedsrichter empfängt ihn, zeigt Gelb-Rot und wirft den JahrhundertTorschützen vom Acker. Das wäre schwarz-weiß und die Regel konsequent umgesetzt.“
In der Öffentlichkeit, so Kircher, würde die Entscheidung aber wohl auf wenig Verständnis stoßen. Deshalb würde – wie in diesem Fall – auch durch den Ermessensspielraum auch einmal weggeschaut. Die Öffentlichkeit fände das dann toll. Aber intern gebe es für die nicht konsequente Auslegung durchaus Kritik.“Wichtig sei es aber für den Schiedsrichter sich durch Mut die Akzeptanz, den Respekt und das Vertrauen zu holen. „Sie müssen nicht der beliebteste Mann auf dem Feld werden“, sagte Kircher und schilderte, welche Auswirkungen Entscheidungen haben können. Er habe mit seinem Gespann einmal das Pokalfinale in Lybien gepfiffen. Als der Ausgleich der Gäste kurz vor Schluss und aus abseitsverdächtiger Position gefallen sei, habe der Assistent an der Linie nur ein Geräusch durch die Luft schwirren gehört. „Und dann lag der Säbel im Rasen.“
„Und so spielt man nicht in der Bundesliga, Herr Effenberg“
Auch im deutschen Oberhaus müsse man hartgesotten sein. „Der Umgangston, die Sprache ist rau“, sagte der frühere Spitzenschiedsrichter. Es sei dennoch die Aufgabe der Unparteiischen sich zu behaupten und die Entscheidungen zu verkaufen. Als junger Referee, erinnert sich Kircher, habe er es mit Stefan „Tiger“Effenberg zu tun bekommen. Nach einem Foul des Mittelfeldstrategen habe er zu hören bekommen: „So pfeift man nicht in der Bundesliga.“Die Ohren nur auf Durchzug stellen, sei gefährlich. „Aber Schiedsrichter vergessen nicht“, betonte Kircher. Als Effenberg später einen Freistoß „versemmelte“, habe Kircher dem früheren Nationalspieler gesagt: „Und so spielt man in der Bundesliga nicht.“
Auch mit Mario Basler sei es stets 60 bis 75 Minuten „ein Kampf gewesen. Dann war er aber platt und wurde ausgewechselt“, schmunzelte Kircher. Immerhin habe sich der Exzentriker stets bei ihm verabschiedet und sei nach Spielschluss noch einmal in die Schiedsrichterkabine gekommen. Dem einzigen Ort ohne Rauchverbot in den Katakomben. „Wir haben Mario gesagt: Bring noch vier Bier mit. Dann darfst du reinkommen. Also es menschelt auch in der Bundesliga.“
Als Schiedsrichter müsse man sich aber im Klaren sein, dass man in der Öffentlichkeit steht und eben auch kritisiert wird, meinte Kircher, dem die Lust am Entscheiden scheinbar nicht abhanden gekommen ist. Zwischen den Zeilen warb er zum Abschluss um neue Entscheider. „Sei mutig.“Zuvor hatte Egesheims Vorsitzender Edgar Sauter berichtet, dass die Anzahl der Schiedsrichter „erschreckend niedrig“sei und Spiele bereits nicht mehr mit Schiedsrichtern angesetzt werden könnten.