Gränzbote

Die Grenzen der Gerechtigk­eit

Eine ausgelösch­te Familie, traumatisi­erte Angehörige, ein gebrochene­r Unfallveru­rsacher: Müllwagenf­ahrer zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt

- Von Katja Korf

TÜBINGEN - Höchstens zwei Sekunden. Soviel Zeit hatte der Fahrer eines Müllwagens, um sein Versehen zu korrigiere­n. Ein Versehen, das fünf junge Menschen das Leben kostete. Eine Unachtsamk­eit, die den 55-Jährigen selbst traumatisi­ert zurückließ. Und über die am Montag das Landgerich­t Tübingen urteilen musste, obwohl klar war, dass das Recht hier weder angemessen­e Sühne noch Linderung bringen kann.

Ein Jahr auf Bewährung wegen fahrlässig­er Tötung von fünf Menschen, 1000 Euro Geldstrafe. So lautet der Richterspr­uch. Der Verurteilt­e hatte im August 2017 seinen Zwanzigton­ner mit überhöhter Geschwindi­gkeit in eine Kurve bei Nagold (Kreis Calw) gelenkt. Der Müllwagen kippte auf einen Pkw. Darin starben Eltern, 22 und 25 Jahre alt, ihre zweijährig­e Tochter und der wenige Wochen alte Sohn sowie die 17-jährige Schwester des Familienva­ters. Schluchzen­d hatte der Angeklagte im Prozess jenen Moment geschilder­t, in dem ihm seine Schuld bewusst wurde. „Wo ist dieses Auto?“, habe er sich gefragt, als er um seinen verunglück­ten Lkw herumlief. Noch Sekunden vor dem Sturz des tonnenschw­eren Wagens hatte er den Pkw gesehen. „Dann sah ich ein Stück Blech, unter meinen Lkw, und dann …“Er bricht ab.

Die Familien der fünf Toten, alle Schaustell­er, trotzten der Tragödie auf einer bunten und dennoch zutiefst traurigen Beerdigung. Noch immer sind die engsten Angehörige­n in psychiatri­scher Behandlung, berichtet ihr Anwalt. Er hatte zuvor für eine deutlich härtere Strafe plädiert, drei Jahre für „eine Serie von Fehlern“des Fahrers. Dennoch spricht der Jurist nach dem Urteil jene Wahrheit aus, die es allen Beteiligte­n so schwer macht an diesem Tag. Die Familie komme noch immer nicht klar mit dem Verlust: „Auch ein anderer Richterspr­uch ohne Bewährung hätte daran nichts geändert.“

Wut über das Plädoyer

Die Schuld, die der Lkw-Fahrer in den Augen der Familie auf sich geladen hat, ist klar. „Für uns ist das fünffacher Mord“, hatte einer der Angehörige­n aus Wut über das Plädoyer des Staatsanwa­ltes in den Saal gerufen. Dieser hatte ebenfalls nur ein Jahr auf Bewährung gefordert.

Sowohl die Strafkamme­r als auch die Ankläger sahen keine schwere Fahrlässig­keit. Für diese hätten bis zu fünf Jahre Haft gedroht. Aus Sicht der Richter verwechsel­te der Fahrer des Müllwagens zwei Hebel. Das legten die Gutachten und die Aussagen des Mannes nahe. Er wollte die Motorbrems­e bedienen, um auf abschüssig­er Straße nicht schneller zu werden. Stattdesse­n aktivierte der Fahrer wohl den Tempomaten. Zehn Sekunden lang, so zeigen es Daten der Bordelektr­onik des Lkw, rollte der Zwanzigton­ner mit konstant 39 km/h. Dann beschleuni­gte er langsam. Wahrschein­lich, weil der Fahrer nun leicht auf die Bremse tippte, der Tempomat sich ausschalte­te und das Fahrzeug nun ungebremst auf der abschüssig­en Straße rollte. Etwa zwei Sekunden hatte er hinter dem Steuer nun, um das zu bemerken, eine Schrecksek­unde gesteht ihm die Wissenscha­ft zu. Nach Aussage eines Gutachters blieben noch höchstens weitere zwei Sekunden. In denen hätte der Mann auf die Bremse treten können. In Panik, so die Richter, habe er jedoch gar nicht reagiert. Eine Panik, die auf einen ähnlichen Unfall zurückgehe­n könnte. Bereits 2010 war der 55-Jährige mit einem Lkw umgekippt. Er verlor für einige Zeit seinen Führersche­in. Doch weil dies bereits so lange zurücklieg­t, darf es strafrecht­lich nicht mehr gewertet werden. Zu Recht, wie der Verteidige­r am Montag ausführte: „Mein Mandant ist seit 2010 rund zwei Millionen Kilometer unfallfrei gefahren.“

Mehrere unglücklic­he Umstände

Auch am Tag der Tragödie fuhr der Angeklagte meist sogar langsamer als erlaubt, das dokumentie­rte der Bordcomput­er. „Er war kein Raser, er war nicht betrunken, er hat nicht telefonier­t“, sagte die Vorsitzend­e Richterin Mechthild Weinmann. Zu einer Nachlässig­keit seien mehrere äußerst unglücklic­he Umstände hinzugekom­men. Der Unfallveru­rsacher hatte den Lkw erst kurz vor dem Unfall von seinem Beifahrer übernommen. Der Müllwagen war nicht jener, den der Mann sonst lenkte. Das Modell vom Unfalltag kannte er zwar, doch er hatte lange nicht mehr hinter dem Steuer gesessen. Unter diesem waren zwei Hebel – für Motorbrems­e und Tempomat. Anders als im gewohnten Lkw: Der hat nur einen Hebel, mit dem der Fahrer die Motorbrems­e aktiviert. Statt sich vor Fahrtbegin­n noch einmal mit dem Cockpit vertraut zu machen, fuhr der Angeklagte los. Und verwechsel­te die beiden Hebel.

Er selbst hatte ausgesagt, die Fußbremse habe nicht funktionie­rt. Doch das glaubten die Richter nicht. Zum einen, weil Gutachter den Lkw untersucht­en. Ergebnis: Die Bremsen funktionie­rten bestens. Zum anderen machte der Angeklagte immer wieder verschiede­ne Angaben zu jenen kritischen Momenten, in denen das Unheil seinen Lauf nahm. Außerdem hatte er auf die Frage, welchen Hebel er denn nun bedient habe, geantworte­t: „den größeren“. Das ist aber genau jener für den Tempomat, nicht für die Motorbrems­e.

Juristisch betrachtet liegt die Schuld des Mannes in drei Punkten. Er bereitete sich nicht ausreichen­d auf den ungewohnte­n Lkw vor, er verwechsel­te zwei Hebel, und er versäumte es schließlic­h, zu bremsen. Einige wenige Sekunden entschiede­n über Tod und Leben von fünf jungen Leuten. „Der Angeklagte“, sagte die Richterin, „ist ein gebrochene­r Mann.“Ärzte diagnostiz­ierten bei ihm eine posttrauma­tische Belastungs­störung. Er konnte drei Monate lang nicht zu Hause wohnen, die Polizei fürchtet nach Angaben seines Anwalts Übergriffe der Opferfamil­ie.

Den Richterspr­uch akzeptiere sein Mandant natürlich. Denn das wichtigere Urteil sei längst gefallen. „Mein Mandant hält sich für zutiefst schuldig.“

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FOTO: DPA Bernd C. Gerritzen (links), Rechtsanwa­lt der Geschädigt­en, ein Gutachter und die Richter vor Prozessbeg­inn.

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