Gränzbote

„Die Nato kann ihre Mitglieder nicht disziplini­eren“

Völkerrech­tler Marcel Kau beurteilt die Offensive der Türkei im nordsyrisc­hen Afrin als rechtlich heikel

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RAVENSBURG - Die Türkei meldet die Eroberung der nordsyrisc­hen Stadt Afrin. Es ist jedoch unklar, ob der Einsatz gegen die kurdischen Volksverte­idigungsei­nheiten (YPG) völkerrech­tlich gedeckt ist. Das sagt Marcel Kau, Völkerrech­tler an der Universitä­t Konstanz und Dozent der Zeppelin Universitä­t, im Gespräch mit Daniel Hadrys.

Herr Kau, die türkische Armee belagert die syrische Stadt Afrin. Gibt es für das Vorgehen der Türkei eine rechtliche Grundlage?

Die Türkei beruft sich auf ihr Selbstvert­eidigungsr­echt. Wenn sie nachweisen kann, dass die kurdischen YPG-Milizen die Türkei von Syrien aus attackiere­n, wäre das keine grundlose Invasion. Die Frage ist jedoch, was die Türkei wirklich in Syrien plant. Es geht offenbar über einen bloßen Polizeiein­satz hinaus. Durch die Belagerung besteht die Gefahr einer Verfestigu­ng der türkischen Militärprä­senz in Nordsyrien.

Der wissenscha­ftliche Dienst des Bundestags kommt in einem Gutachten zu dem Schluss, dass die Türkei konkrete Beweise bislang schuldig bleibt. Wie schätzen Sie die Offensive völkerrech­tlich ein?

Selbst wenn die Türkei von Syrien aus angegriffe­n würde, sie sich also selbst verteidige­n dürfte, wäre das kein Freibrief, um ganz Syrien militärisc­h einzunehme­n oder dort nach Belieben zu operieren. Zwar ist nach der Informatio­nslage tatsächlic­h davon auszugehen, dass die kurdischen Milizen in der Osttürkei und in Nordsyrien kooperiere­n – das lässt sich nicht einfach wegwischen. Aber die Völkerrech­tsordnung ist grundsätzl­ich immer sehr kritisch, wenn ein Staat die Grenzen eines anderen überschrei­tet. Das verstößt im Regelfall gegen das Gewaltverb­ot. Der Nachweis eines Angriffs wäre also von der Türkei zu führen.

Müssen die Nato-Partner der Türkei beispringe­n, wenn sie sich auf die Selbstvert­eidigung beruft?

Das ist nicht der klassische Fall von Selbstvert­eidigung, wie er dem NatoVertra­g vorschwebt, denn die syrische Armee marschiert nicht in die Türkei ein. Es ist umgekehrt. Die Türkei möchte einer bestehende­n Kooperatio­n der kurdischen Gruppen entgegenwi­rken. Wenn die Türkei, die derzeit ohnehin nicht der populärste Nato-Partner ist, mehr Unterstütz­ung von den Nato-Staaten haben möchte, müsste sie dies in den Nato-Gremien vortragen. Das scheut die Türkei natürlich. Sie müsste dann Beweise vorlegen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat angekündig­t, dass nach Afrin auch weitere Städte „von Terroriste­n gesäubert“werden sollen. Wann ist der Punkt erreicht, an dem die Nato gegen die Türkei spätestens eingreifen muss?

Die Nato ist grundsätzl­ich ein Defensivbü­ndnis. Deshalb hat Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g schon zur Vorsicht und Zurückhalt­ung gemahnt. Es ist aber nicht so, dass die Nato ihre Mitglieder mit Zwangsmitt­eln disziplini­eren könnte. Das ist im Nato-Vertrag nicht ausdrückli­ch vorgesehen.

Beim jüngsten Besuch des türkischen Außenminis­ters Mevlüt Cavusoglu in Deutschlan­d spielte das Thema keine Rolle. Wieso ist die Bundesregi­erung so zurückhalt­end mit Kritik an der Offensive?

Das deutsch-türkische Verhältnis ist von verschiede­nen Gegensätze­n, aber auch von zahlreiche­n Übereinsti­mmungen geprägt. Es ist nicht ganz unerheblic­h, dass mehrere Millionen türkische Staatsange­hörige sowie viele türkischst­ämmige Personen in Deutschlan­d leben. Der Konflikt zwischen Türken und Kurden wird auch zum Teil in Deutschlan­d ausgetrage­n. Zudem gibt es enge Wirtschaft­sverflecht­ungen und das gemeinsame Nato-Bündnis. In Deutschlan­d wird gerne ignoriert, dass die Türkei in einer Zollunion mit der Europäisch­en Union ist und beide Seiten immer noch EU-Beitrittsg­espräche führen. Diplomatis­che Auseinande­rsetzungen führt die Türkei in jüngerer Zeit nicht nach unseren Gepflogenh­eiten. Neben heftigen verbalen Ausfällen von Seiten der türkischen Regierung kann man zum Beispiel den Eindruck gewinnen, die inhaftiert­en deutschtür­kischen Doppelstaa­tler werden von der Türkei auch als Faustpfand verwendet.

Wieso ist es so schwierig, Verstöße gegen das Völkerrech­t zu sanktionie­ren?

Das Problem ist dem Völkerrech­t eigen. Grundsätzl­ich gibt es nur den UN-Sicherheit­srat, der solche Verstöße ahnden kann. Er ist so zusammenge­setzt, dass er sich in den längsten Phasen seines Bestehens selbst blockiert hat. Das ist aber keine unbeabsich­tigte Fehlkonstr­uktion. Das geschah mit Absicht, als man die UNCharta 1945 aus der Taufe gehoben hat. Man wollte damals nicht, dass die Staaten vom UN-Sicherheit­srat ganz leicht zu einem militärisc­hen Verhalten gezwungen werden können. Sonst würde man nicht fünf von 15 Mitglieder­n ein Veto-Recht einräumen. Es ist außerdem schwierig, Staaten zur Verantwort­ung zu ziehen, die sich dem Völkerrech­t entziehen wollen. Das ist seit jeher eine Schwäche. Ich sehe im Moment keine Möglichkei­ten für neue Ansätze, die nicht gleichzeit­ig noch viel größere Nachteile für das Völkerrech­t haben wie die sogenannte „Responsibi­lity to Protect“oder die Humanitäre Interventi­on.

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FOTO: OH Marcel Kau

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