Gränzbote

Halime ist in der EU und ihr Mann Ali nicht

Theatergru­ppe „Halber Apfel“gastiert in der Aula des Immanuel-Kant-Gymnasiums

- Von Regina Braungart

TUTTLINGEN - Ausgerechn­et Mesut Özil! Ein türkisch-deutsches Fußballspi­el ist Auslöser einer Wette zwischen Ali Öztürk (Murat Isboga) und der Freundin seiner Tochter, Stefanie (Cansu Karagöz). Und ausgerechn­et Özil schießt den Siegertref­fer für Deutschlan­d. Zum Schluss des Comedy-Theaterabe­nds „Stefanie integriert die Öztürks“zitiert der gutmütig-einfältige Türke Ali Goethes Lebensdate­n und macht keinen einzigen Fehler mit den drei deutschen Artikeln. Erfolgreic­h integriert.

Woran erkennt man einen Türken? Und einen Deutschen? Die herkunftsm­äßig bunt gemischten Zuschauer in der gut besetzten Aula des Immanuel-Kant-Gymnasiums (es gab sogar einen Österreich­er darunter), sind nach dem vom Feza-Kulturzent­rum veranstalt­eten Theaterabe­nd auf jeden Fall schlauer: Ein Türke liebt viele Üs und Ös, hat nur eine – durchgängi­ge – Augenbraue, trägt einen Bart, die Türkin liebt die 170 Teile der tränenreic­hen Fernsehsoa­p „Ali Reza“, Familien kennzeichn­en ihre Wohnungen durch viele abgestellt­e Schuhe vor der Haustür und besuchen gerne in großer Zahl aus Respekt vor dem Lehrer, Elternspre­chtage.

Es lebe das Vorurteil

Deutsche lieben große Wandkalend­er, brauchen ihre Ruhe, verehren neben „Der-Die-Das“Wörter wie Schleimbeu­telentzünd­ung, feste Essenszeit­en, die „Lindenstra­ße“und haben ein klares Bild davon, wie alles zwischen den Nationen gegliedert sein muss gemäß der Überschrif­t in einer Kölner Zeitung: „Ausländer verprügeln einen Franzosen“.

Letzteres ist leider keine Satire und auch nicht die Aussagen des Lehrers, der begabte Junge solle doch lieber nicht Physik studieren, sondern etwas machen, das man auch braucht: Autos waschen zum Beispiel.

Schon beim ersten Mal, als die Theatertru­ppe „Halber Apfel“in Tuttlingen war, hielten sich die Zuschauer die Bäuche vor Lachen über selbstiron­ische Sticheleie­n, die in anderem Kontext vielleicht nicht ganz konfliktfr­ei ausgegange­n wären. Das Publikum ist bestens gelaunt und dank Murat Isbogas Improvisat­ionstalent auch ständig einbezogen in die Überlegung­en und Verwicklun­gen zum Thema „Was ist Türkisch?“und „Was ist Deutsch?“

Und so kämpfen sich Alis Frau Halime (Merve Deniz) – Besitzerin eines deutschen Passes und spitzzüngi­g und scharfsinn­ig über die Frage sinnierend, warum sie denn nun in der EU sei und ihr Mann nicht – und die studierend­en Kinder Hakan (Yasin Uzun) und Zeynep (Edanur Delibas) sowie Fatma (Seda Uymaz) als angehende Braut mit den Irrungen und Wirrungen der spiegelbil­dlichen Selbstvers­tändnisse. Und den chaotische­n Grautönen des Blutes („AB positiv“, antwortet Halime). Einfältig und komödianti­sch voll in sich ruhend auch Bräutigamv­ater Sükrü (Büsra Harundag) bei der traditione­llen Variante der Brautwerbu­ng.

Man sieht sich immer zweimal

Das gemeinsame Lachen schafft eine schöne Atmosphäre im Saal, auch wenn man sich nicht kennt. Und zwischen den Zeilen beziehungs­weise am Schluss durch eine ernste Sequenz betont, nimmt man Anregungen zum Nachdenken mit. So hat Regisseur und Autor Isboga Bildsequen­zen ausgesucht von den ersten türkischen Gastarbeit­ern, in deren Gesichtern sich Mut, Angst, Naivität und irgendwie auch Zuversicht – und später Kohle von der schweren Arbeit – spiegeln. Erst da wird einem bewusst, dass es oft lange erst nur Männer waren, die ihre Familien zurück lassen mussten. Dass sie sofort anfingen zu arbeiten und gar keine Zeit hatten für Goethe und Physik und dass sich diese Geschichte, die sich innerhalb von nur zwei oder drei Generation­en so tiefgreife­nd entwickelt hat, eine ziemlich große Sache war und ist für die Familien.

Isboga versprach dem Feza-Vorstandsv­orsitzende­n Müslüm Yelken, der die Gäste begrüßt hatte, wiederzuko­mmen, wenn gebucht. Das Publikum fand: Unbedingt!

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FOTO: R. BRAUNGART Murat Isboga gab sich auf der Bühne als Ali Öztürk nahezu kabarettis­tisch.

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