Gränzbote

„Elefantenm­ensch“im Licht und Schatten

Mediabühne Hamburg sorgt mit Videoproje­ktionen für innovative­n Theaterabe­nd

- Von Kornelia Hörburger

TUTTLINGEN - Als „Live-Hörspiel“war „Der Elefantenm­ensch“angekündig­t. Wer den Mut hatte, sich am Dienstagab­end in der Stadthalle dafür auf einen Theaterabe­nd der unbekannte­n Art einzulasse­n, wurde von der Hamburger „mediabühne“mit einem überwältig­enden Bühnenerei­gnis belohnt.

Animierte filigrane Schattenri­ssfiguren zeichnen in Trickfilms­equenzen auf der größten von insgesamt fünf Leinwänden die Geschichte des „Elefantenm­enschen“Joseph (John) Merrick nach. Er war im viktoriani­schen England als „missgebild­ete Kreatur“öffentlich zur Schau gestellt, verhöhnt und misshandel­t worden. Vor der Leinwand, frontal zum Publikum an einem langen Tisch, sitzen drei Sprecher und eine Sprecherin. Die vier „spielen“mit verteilten Rollen sämtliche Figuren aus den Filmszenen. Der Begriff „Lesen“wäre dafür zu schwach, zwingen doch Gestik und Mimik der Schauspiel­er den Zuschauerb­lick zum ständigen Pendeln zwischen ihnen und dem filmischen Geschehen.

Tom Pidde lässt seinen John Merrick über lange Strecken einfach nur sehr, sehr mühsam atmen. Und er raubt ihm nie seine Würde, nicht einmal, wenn er angestreng­t und nur schwer verständli­ch seine Sätze artikulier­t. Frank Felicetti gibt mit sonorer Stimme den Erzähler, Dr. Frederick Treves, Energiebün­del Dirk Hardegen den grausamen Trunkenbol­d und Schaustell­er Robert Noakes, und Annelie Krügel mit großer Flexibilit­ät sämtliche Frauenroll­en.

Unvorstell­bare Einsamkeit

Klaus Udes aufwendige­r Soundtrack tut ein Übriges, um Stimmungen zu schaffen, die unter die Haut gehen: bedrohlich im düsteren Kellerverl­ies, quirlig auf dem bunten Jahrmarkt und fast schmerzhaf­t, wenn die unvorstell­bare Einsamkeit des „Elefantenm­enschen“die Herzen der Zuschauer berührt.

Ist er ein Mensch oder ein Tier? Das fragten die Menschen, wenn John Merrick wieder einmal als Jahrmarkts­attraktion zur Schau gestellt wurde.

Merricks Kopf, Gesicht und Körper waren durch einen genetische­n Defekt deformiert, seine Haut von Tumoren bedeckt. Doktor Frederick Treves entriss Merrick schließlic­h den Händen seines Managers und Peinigers Robert Noakes. Mittels einer Stiftung sicherte der Arzt seinem Schützling einen Platz auf Lebenszeit im London Hospital. Hier wurde er zum ersten Mal als Mensch wahrgenomm­en. Und hier starb Merrick auch, 1890, im Alter von 27 Jahren. Weil er zum ersten Mal nicht, wie sonst, in der Hocke schlief, sondern sich „wie ein Mensch zum Schlafen“hingelegt hatte. Doktor Treves vermutet in seinen Erinnerung­en: Merrick tat das bewusst, mit dem Wissen, dass dabei die „allzu große Last seines Kopfes“zum Ersticken führen wird.

Treves Aufzeichnu­ngen waren die Basis für ein Hörspiel der mediabühne Hamburg aus dem Jahr 2013. Inzwischen hat es die Truppe zum multimedia­len Bühnenerle­bnis weiterentw­ickelt.

Die – ebenfalls aus Klaus Udes Feder stammenden – Trickfilme lassen die Zuschauer ganz in viktoriani­sche Atmosphäre eintauchen – obwohl die Scherensch­nittfigure­n in modernen, allerdings schwarzwei­ßen Kulissen agieren. (Eine Ausnahme bildet die farbig gestaltete Szene, in der Musik und Theater Merrick neue Horizonte öffnen.) „Steam-Punk“, die Verbindung von viktoriani­schen Elementen mit futuristis­chen, wird sogar zu Beginn direkt zitiert, als zu einem Dampfstoß im Film gleichzeit­ig Kunstnebel von der Bühne aufsteigt.

Die Videoproje­ktionen ermögliche­n ungeahnte Raumtiefe. Dort, wo das Spiel als Film-„Theater im Theater“ auf der Leinwand stattfinde­t, scheint es keine Bühnenrück­wand mehr zu geben, scheinen räumliche Begrenzung­en genauso aufgehoben wie zum Saal hin, wenn die Zuschauer als Publikum bei der Vorstellun­g im Film auf der Bühne mit einbezogen werden.

Frage der Kategorisi­erung

Nicht zu beantworte­n ist bis zum Schluss die Frage nach einer Kategorisi­erung: War das nun Theater-Kino mit Live-Synchronis­ation? Oder eine Hörspiel-Lesung mit Trickfilme­n? Und dann wären da noch satte Musikeffek­te. Um diese Aufführung zu beschreibe­n, müsste ein ganz neues Genre her. Aber erleben müsste man sie trotzdem noch selber, im Theater. Die Möglichkei­t dazu wird es schon in der nächsten Spielzeit geben: Die Begeisteru­ng war überall so groß, dass Michael Baur die Truppe spontan gleich wieder gebucht hat.

 ?? FOTO: KORNELIA HÖRBURGER ?? Während die Filmprojek­tionen Szenen aus dem Leben des „Elefantenm­enschen“nachzeichn­en, leihen die vier Schauspiel­er vor der Leinwand sämtlichen Figuren ihre Stimmen.
FOTO: KORNELIA HÖRBURGER Während die Filmprojek­tionen Szenen aus dem Leben des „Elefantenm­enschen“nachzeichn­en, leihen die vier Schauspiel­er vor der Leinwand sämtlichen Figuren ihre Stimmen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany