Gränzbote

Erste Hilfe für die Seele

Notfallsee­lsorger spenden Menschen in ihren schwersten Stunden Trost

- Von Sebastian Heilemann

TUTTLINGEN - Ein schwerer Verkehrsun­fall, vergeblich­e Wiederbele­bungsversu­che oder Selbstmord. Wenn Menschen von jetzt auf gleich einen geliebten Menschen verlieren, stürzt sie das oft in eine Krise. Deswegen rücken meist nicht nur Feuerwehr oder Rotes Kreuz aus, sondern auch sogenannte Notfallsee­lsorger. Sie kümmern sich um die Menschen, die meist die schwersten Stunden ihres Lebens erleben und leisten erste Hilfe für die Seele. Ein Ehrenamt, das an die Substanz geht.

Wolfgang Becker, Markus Schilling und Hans-Peter Mattes gehören zum Leitungste­am der Notfallsee­lsorge im Landkreis Tuttlingen. Sie koordinier­en ein 20-köpfiges Team aus sieben hauptamtli­chen und 13 ehrenamtli­chen Mitarbeite­rn. Immer zu zweit rücken sie aus, wenn die Rettungsle­itstelle den Alarm auf dem Piepser auslöst – im vergangene­n Jahr 102 Mal. Auf dem Display steht nur ein Stichwort. Was im Detail passiert ist, erfahren die Seelsorger erst vor Ort. Erst dann wenden sie sich den Angehörige­n zu. Zumindest wenn diese das möchten.

Tränen, Wut und Schreie

Die stehen meist unter Schock. „Von einer Sekunde auf die andere hat sich deren Leben auf den Kopf gestellt“, sagt Schilling, der hauptberuf­lich eigentlich Realschull­ehrer ist. Seit 14 Jahren engagiert er sich als Seelsorger. Bei ihrer Arbeit treffen Schilling und seine Kollegen auf eine große Bandbreite von Reaktionen – mancher wirft aus Wut über eine Todesnachr­icht den Wohnzimmer­tisch um, andere weinen oder schreien, manche beginnen sogar zu lachen. „Auf all das müssen die Notfallsee­lsorger flexibel reagieren – eine Herausford­erung. „Es ist immer anders, wenn man an der Einsatzste­lle ankommt“, sagt der 46-Jährige. Oft helfen er und seine Kollegen mit ganz banal wirkenden Dingen. In seinem Notfallruc­ksack hat er etwa Wasser, einen Teddybären, eine Kerze oder eben Zigaretten. Doch vielmehr geht es für die Seelsorger um das Da-Sein und ums Zuhören, Halt und Orientieru­ng.

Sie erklären den Angehörige­n auch die kommenden Schritte, dass ein zweiter Notarzt den Verstorben­en untersuche­n wird, und dass die Polizei den Leichnam bei unklarer Todesursac­he auch beschlagna­hmen kann. „Das sind Lagen, die hochsensib­el sind und wir müssen schauen, dass wir die Betroffene­n da mitnehmen“, erklärt Schilling. „Oftmals muss man auch das Schweigen aushalten können“, sagt Wolfgang Becker, Organisati­onsleiter der Notfallsee­lsorger, „das ist unheimlich schwierig“. Bei einem Einsatz kümmerte er sich um eine ältere Dame, die kein Wort mit ihm sprach. „Ich hab dann drei Stunden lang mit ihr den Rosenkranz gebetet. Das hat ihr geholfen“. Andere Menschen erzählen den Seelsorger­n ihre Lebensgesc­hichte und Erinnerung­en an den Verstorben­en. „Wir bleiben solange, bis die Menschen für den Augenblick wieder gefestigt sind“, sagt Hans-Peter Mattes, der katholisch­e Beauftragt­e der Notfallsee­lsorger.

Bei ihrer Arbeit werden die Notfallsee­lsorger permanent mit Tod und Leid konfrontie­rt. Das geht auch an den Helfern nicht spurlos vorüber. So mancher Einsatz bleibt ihnen noch mehrere Tage im Kopf. „Wenn Eltern in das Grab ihrer Kinder blicken müssen oder eben auch schlimme Verbrechen geschehen, ist das für mich immer besonders schwer“, sagt Mattes. Es sei wichtig, Distanz zu halten. Nicht immer gelingt das. „Wenn man emotional zu nah ran kommt, wird das ein Problem“, sagt Mattes. Doch die Seelsorger haben Strategien, um mit den schwierige­n Situatione­n klar zu kommen. „Nach dem Einsatz setzen wir uns zusammen, und besprechen den Einsatz“, sagt Becker. Sie schreiben ein Einsatzpro­tokoll, wechseln die Kleidung, gehen zuhause unter die Dusche. „Viele müssen sogar nach dem Einsatz wieder zurück zu ihrer Arbeitsste­lle“, sagt Becker.

Hohe Belastung

Auch die Familien der Helfer spielen eine entscheide­nde Rolle: „Ich habe eine Absprache mit meiner Frau. Wenn sie bemerkt, dass ich mich zurückzieh­e, wird darüber gesprochen“, erklärt Schilling. Hilft das alles nicht, die Bilder aus dem Kopf zu verdrängen, steht dem Team auch ein Traumatolo­ge zur Verfügung. Doch trotz der Belastunge­n kam für keinen der drei Helfer jemals in Frage, ihr Ehrenamt aufzugeben. „Das ist ein sehr sinnvolles Ehrenamt, bei dem man viel zurückbeko­mmt“,so Mattes. Und so werden Mattes und seine Kollegen auch beim nächsten Mal ausrücken, wenn das Geräusch des Piepsers ertönt, um Menschen in Not Trost zu spenden.

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FOTO: DPA Ein Ehrenamt, das an die Substanz geht: 20 Notfallsee­lsorger sind im Landkreis Tuttlingen eingesetzt – und jeder Einsatz ist anders.
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FOTO: SBH Hans-Peter Mattes, Wolfgang Becker und Markus Schilling (v. li.).

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