Gränzbote

Trauer nach der Amokfahrt von Münster

48-Jähriger rast mit Campingbus in Menschenme­nge – Zwei Tote und viele Schwerverl­etzte

- Von Ludger Möllers, Andreas Herholz und unseren Agenturen

● MÜNSTER - Die Amokfahrt in Münster war offenbar die Tat eines psychisch labilen Mannes. Es gebe keine Hinweise auf ein politische­s oder islamistis­ches Motiv, teilte die Polizei am Sonntag mit. Der Mann habe sich in einem langen Schreiben auch zu Suizidgeda­nken geäußert. Der 48jährige Jens R., der am Samstagnac­hmittag in eine Menschenme­nge vor einem Lokal in Münster gerast war, war offenbar auch dem Gesundheit­samt Münster wegen psychische­r Probleme bekannt. Infolge seiner Tat starben zwei arglose Menschen, über 20 Personen wurden verletzt.

Ende März habe sich der Mann mit einer E-Mail unter anderem an einen Nachbarn gewandt, teilte die Polizei am Sonntag mit. „Aus dem Inhalt ergaben sich vage Hinweise auf suizidale Gedanken, aber keinerlei Anhaltspun­kte für die Gefährdung anderer Personen.“WDR, NDR und „Süddeutsch­e Zeitung“berichtete­n zudem über ein weiteres 18-seitiges Schreiben, das in der Wohnung des 48-Jährigen im sächsische­n Pirna gefunden worden sei. Darin verarbeite er Kindheitse­rlebnisse und frühe, von ihm als demütigend empfundene Erfahrunge­n. Der Polizeiprä­sident von Münster, Hajo Kuhlisch, sagte, die Ermittler gingen davon aus, „dass die Motive und Ursachen in dem Täter selber liegen“. Der Mann soll aus dem sauerländi­schen Olsberg stammen und als Industried­esigner in Münster gelebt haben.

Nordrhein-Westfalens Innenminis­ter Herbert Reul bekräftigt­e am Sonntag bei einem Besuch am Tatort, mit hoher Wahrschein­lichkeit habe ein Einzelner gehandelt. Zur „Schwäbisch­en Zeitung“sagte der CDU-Politiker: „Bisher wissen wir, dass es sich um einen deutschen Staatsbürg­er handelt, dass er kein Ausländer, kein Flüchtling ist.“Reul betonte, es werde nie absolute Sicherheit geben, aber: „Wir müssen die Gefahren ernst nehmen und besonders auch die Innenstädt­e sichern. Jede Stadt, jede Gemeinde muss selbst vor Ort prüfen, was dabei erforderli­ch, praktisch und angemessen ist.“

Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU) und Nordrhein-Westfalens Ministerpr­äsident Armin Laschet (CDU) sprachen am Sonntag vor Ort Opfern und Angehörige­n ihr Mitgefühl aus. „Es handelt sich um ein feiges und brutales Verbrechen“, sagte Seehofer zur „Schwäbisch­en Zeitung“. Er dankte Polizei und Sicherheit­skräften – und den Medien, die sich verantwort­ungsbewuss­t verhalten hätten. Laschet lobte die Besonnenhe­it und Solidaritä­t der Münsterane­r. Für die Angehörige­n sei die Religion der Täter egal, sie hätten einen Menschen verloren.

Empörung herrschte über Äußerungen der AfD-Politikeri­n Beatrix von Storch und des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan. Von Storch hatte unmittelba­r nach den ersten Meldungen über die Amokfahrt den Satz „Wir schaffen das“von Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) zum Flüchtling­szuzug zitiert und nahegelegt, ein Flüchtling sei für die Tat verantwort­lich. Erdogan hatte indirekt auf angebliche kurdische Terroriste­n hingewiese­n.

Jens R. war am Samstag um 15.27 Uhr mit einem Campingbus im Zentrum von Münster in eine Menschengr­uppe vor der Gaststätte Großer Kiepenkerl gerast, danach hatte er sich im Wagen erschossen. Bei den Todesopfer­n handelt es sich um eine 51-Jährige aus dem Kreis Lüneburg (Niedersach­sen) und einen 65-jährigen Mann aus dem Kreis Borken (Nordrhein-Westfalen). Mindestens drei der mehr als 20 Verletzten schwebten zunächst weiter in Lebensgefa­hr. „Wir hoffen inständig und beten dafür, dass die Verletzten wieder gesund werden“, sagte Horst Seehofer.

● MÜNSTER - Am Samstag, dem ersten schönen, warmen, sonnigen Frühlingst­ag, ist die historisch­e Altstadt von Münster voller Leben. Viele Menschen sitzen in den Straßencaf­és und ruhen sich vom Einkaufen oder von einer Besichtigu­ngstour aus. Vielleicht treffen sie sich mit Freunden. Oder sie genießen nach dem langen, grauen Winter die Sonne? Um 15.27 Uhr stellt sich für die etwa 100 Gäste, die zwischen den Traditions­lokalen Kleiner Kiepenkerl und Großer Kiepenkerl sitzen, das Leben auf den Kopf: Mit seinem silbergrau­en Campingbus rast der 48jährige Jens R. durch die Innenstadt. Vorbei am Rathaus, in dem 1648 der Westfälisc­he Frieden geschlosse­n wurde, lässt er die Lambertiki­rche hinter sich. Auf Höhe des Lokals lenkt er mit voller Absicht sein Fahrzeug in die Menschen, die auf der Restaurant-Terrasse sitzen: Zwei Gäste, eine 51-jährige Frau und ein 65-jähriger Mann, sind sofort tot. Dann nimmt Jens R. eine Pistole und erschießt sich selbst. Als nur eine Minute nach dem Anschlag der erste Streifenwa­gen der Polizei eintrifft, ringen sechs Schwerverl­etzte mit dem Tod, 20 weitere Opfer sind leicht verletzt.

Einzelgäng­er und Einzeltäte­r

Bei dem Täter handelt es sich um einen der Polizei bekannten, psychisch auffällige­n 48-Jährigen. Einen Deutschen. Einen Industrie-Designer aus Münster. Einen Einzeltäte­r. Einen Einzelgäng­er, der seinen Nachbarn den Suizid angekündig­t hat: Das alles stellt sich aber erst nach und nach heraus. Unmittelba­r nach dem Anschlag ist völlig unklar, aus welcher Motivlage heraus aus einem strahlende­n Samstagnac­hmittag eine der dunkelsten Stunden der Stadt geworden ist.

Kurz vor dem Katholiken­tag

Münster, die boomende Universitä­tsstadt im Herzen Westfalens, bezeichnet sich gerne als „Stadt des Westfälisc­hen Friedens“. Gemeint ist nicht nur jener Friedensve­rtrag, der 1648 den Dreißigjäh­rigen Krieg beendete. Vielmehr haben sich in der gut 310 000 Einwohner und 60 000 Studenten zählenden Stadt neben der Universitä­t viele Initiative­n angesiedel­t, die Ökologie und Ökonomie in Einklang bringen wollen. Münster erinnert in vielen Aspekten an Deutschlan­ds Ökohauptst­adt Freiburg im Breisgau. Das Bistum Münster ist Vorreiter in der katholisch­en Welt, wenn es um Umweltfrag­en geht. Und im kommenden Monat soll in Münster der Katholiken­tag stattfinde­n. Das Motto des Katholiken­treffens: „Suche Frieden“.

Doch mit diesem Samstagnac­hmittag endet der Frieden. Jedenfalls vorerst. Die Bilder von den Kiepenkerl-Terrassen, die um die Welt gehen, erinnern an die blutigen Anschläge von Berlin oder Nizza. Menschen liegen auf dem Boden oder flüchten vom Tatort. Augenzeuge­n weinen und nehmen sich in den Arm. Inmitten der umgestürzt­en Stühle steht der Campingbus. „Wir waren auf dem Weg zu Aasee“, erzählt eine Studentin später, „auf einmal kamen schreiende Menschen angerannt und reifen: ,Weg, weg, da ist einer in Menschen gerast, das ist Terror’.“

Terrorgefa­hr: Allein das Stichwort löst einen Großeinsat­z aus. Die Polizei, die wegen einer angemeldet­en Kurden-Demonstrat­ion mit starken Kräften präsent ist, sperrt die Innenstadt sofort weiträumig ab. Aus dem ganzen Land werden Hundertsch­aften zusammenge­zogen. Da unklar ist, ob es sich um einen Terroransc­hlag handelt, wird auch die Spezialein­heit GSG 9 alarmiert. Augenzeuge­n wollen zwei flüchtende, möglicherw­eise weitere Täter gesehen haben: „Augenzeuge­nberichte sind gerade in solchen Situatione­n sehr mit Vorsicht zu genießen“, erklärt ein Polizeispr­echer. Die Passanten verlassen die sonst so lebhaften kleinen Gassen rund um den Dom. Von nun an herrscht eine merkwürdig­e Stille, nur unterbroch­en durch die Martinshör­ner der Einsatzwag­en und den Lärm der in der Nähe startenden und landenden Rettungshu­bschrauber.

Zeitgleich schalten die Krankenhäu­ser in den Krisenmodu­s. In der Universitä­tsklinik kommen 250 Ärzte, Pfleger und Schwestern aus ihrem freien Wochenende. Sie kämpfen um das Leben der vier Schwerstve­rletzten. Vor der Blutspende­stelle bilden sich Schlangen Freiwillig­er, die über Twitter angesproch­en wurden. Und es gibt die kleinen, aber wirksamen Zeichen der Solidaritä­t: Der Gastwirt Massimo Ciliberto kann an diesem Abend keine Gäste begrüßen, sein Lokal liegt in der Sperrzone. Aber er spendiert Pizzen, Getränke, verteilt Kaffee: „Wir lassen uns nicht unterkrieg­en.“

In den Räumen des in unmittelba­rer Nähe zum Tatort gelegenen Doms richten Sanitäter eine Verletzten­sammelstel­le ein. Humpelnd kommt ein Opfer in die Sakristei. Am liebsten möchte die etwa 50-Jährige direkt nach Hause. Doch die Sanitäter untersuche­n sie. Und fragen: Wer braucht ärztliche Hilfe? Wer braucht Seelsorger? Weihbischo­f Stefan Zekorn, der als einer der ersten Priester im Dom eintrifft, bietet Gespräche an. Und er ist nicht alleine: „Rein zufällig waren Notfallsee­lsorger aus Paderborn auf ihrem Jahresausf­lug hier in Münster“, berichtet Zekorn, „die Seelsorger haben direkt die Lage aufgenomme­n und ihre Kollegen unterstütz­t.“

Häuser werden evakuiert

Vom Tatort erreichen verstörend­e Bilder die Welt, verbreitet über soziale Netzwerke, aufgenomme­n durch Anwohner. Der Campingbus steht seit Stunden vor dem Großen Kiepenkerl. Die Polizisten, so berichtet Sprecherin Angela Lüttmann, haben Objekte und Drähte im Fahrzeug entdeckt, die sie nicht zuordnen können. Hatte Jens R. seinen Campingbus zu einer rollenden Zeitbombe ausgebaut? Im Umkreis von 150 Metern werden die Häuser evakuiert, alle Bewohner müssen ihre Wohnungen verlassen. Im Stadttheat­er – die Vorstellun­gen sind ohnehin abgesagt – kümmern sich DRK und Feuerwehr um die Menschen. Erst nachts um ein Uhr, nachdem ein ferngesteu­erter Roboter das Objekt gesichert hat, wird die Evakuierun­g aufgehoben. Auch wird klar: Es gibt keine Mittäter.

Langsam stellt sich heraus, dass die Tat weder terroristi­sch noch islamistis­ch motiviert war. Es spreche „im Moment nichts dafür, dass es irgendeine­n politische­n Hintergrun­d gibt“, sagt der nordrhein-westfälisc­he Innenminis­ter Herbert Reul (CDU) am Abend. Noch während Reul mit den mittlerwei­le 100 Journalist­en spricht, durchsuche­n Polizeibea­mte die nahe gelegene Wohnung des Täters. Sie finden eine unbrauchba­r gemachte Waffe, dazu ein paar polnische Böller. Und sie sprechen mit Nachbarn, die davon berichten, dass Jens R. sich nach einem Unfall vor ein paar Jahren verändert habe. Er sei ein Streithans­el, der in letzter Zeit viel mit dem Campingbus unterwegs gewesen sei. Vier Wohnungen, mehrere Fahrzeuge, einen Container nehmen sich die Ermittler in der Nacht vor und kommen zu dem Schluss: Verfahren wegen Bedrohung, Unfallfluc­ht, Betruges und Sachbeschä­digung habe es gegeben, sie seien eingestell­t worden. Daher habe es „keine Anhaltspun­kte auf eine stärkere kriminelle Intensität“gegeben, sagt am Sonntagmor­gen die Leitende Oberstaats­anwältin, Elke Adomeit. Vielmehr werde davon ausgegange­n, „dass die Motive in dem Täter selber liegen“, ergänzt Münsters Polizeiprä­sident Hajo Kuhlisch.

Der Sonntag nach dem Anschlag ist in Münster der Tag, an dem Bundesinne­nminister Horst Seehofer (CSU), NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet und Landesinne­nminister Herbert Reul (beide CDU) Blumen am Tatort niederlege­n. Laschet kündigt an, die Opferschut­zbeauftrag­te Elisabeth Auchter-Mainz werde nach Münster kommen, um vor Ort „für jede einzelne Familie“zur Verfügung zu stehen. Dem Landesvate­r ist anzumerken, wie sehr ihn die Mordattack­e persönlich anfasst: „Ich habe selbst schon häufig auf der Kiepenkerl-Terrasse gesessen.“Und er fügt hinzu: „Wir wollen auch weiterhin draußen sitzen und das Leben genießen.“Es gebe keinen absoluten Schutz, hat zuvor Seehofer betont.

Poller für mehr Sicherheit?

Seehofer und Laschet werden in den kommenden Tagen und Wochen mühsame Diskussion­en führen müssen. Noch am Tatort stellen sich Passanten die Frage, ob Poller, wie sie in Frankreich üblich sind, den Anschlag hätten verhindern können. Ganz konkret geht es in Münster um ein Großereign­is, zu dem mehr als 40 000 Teilnehmer erwartet werden: den Katholiken­tag im Mai. Der Münsterane­r Oberbürger­meister Markus Lewe wird zusammen mit den Organisato­ren des Katholiken­treffens das Sicherheit­skonzept erneut prüfen: „Es ist sehr, sehr ausgefeilt“, sagt Weihbischo­f Stefan Zekorn, „aber nach dem heutigen Tag ist klar: Es muss auf den Prüfstand.“Ob in Münster der Katholiken­tag in friedliche­r Stimmung gefeiert werden kann, darf bezweifelt werden. „Solange wir leben, werden wir Antworten auf Frieden suchen“, predigt ein Priester am Sonntagmor­gen im Dom und weiß: Angesichts der Verletzung­en, der Toten, der unklaren Hintergrün­de und der Traumata nach dem Anschlag steht diese Suche erst ganz am Anfang.

Weitere Informatio­nen zur Amokfahrt unter: www.schwäbisch­e.de/ todesfahrt-münster

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FOTO: DPA Gedenken am Brunnen vor der Gaststätte Großer Kiepenkerl (von links): Münsters Oberbürger­meister Markus Lewe, Bundesinne­nminister Horst Seehofer und Armin Laschet, Nordrhein-Westfalens Ministerpr­äsident.
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FOTO: DPA Menschen stehen vor einem der Lokale am Kiepenkerl, kurz nachdem ein Fahrzeug in das Straßencaf­é gefahren ist.

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