Gränzbote

Blaumachen auf sizilianis­ch

In Ficarra haben sich städtische Angestellt­e selten bei der Arbeit sehen lassen

- Von Thomas Migge

● ROM - Es geht um eines der ganz heißen Themen Italiens. Nein, nicht um die Mafia, sondern um den so genannten assenteism­o. „Assente“heißt übersetzt „abwesend“. Ein besonders krasses Beispiel für die „Abwesenhei­tskultur“gibt es nun im sizialiani­schen Ficarra. Gegen 23 städtische Angestellt­e wird wegen chronische­n Blaumachen­s ermittelt. Das ist mehr als die Hälfte der gesamten Belegschaf­t.

Ficarra ist eine malerische kleine Ortschaft an der sizilianis­chen Ostküste. Der Name geht auf das arabische Al Fakhar, die Glorreiche, zurück. Das heißt also, dass Ficarra wahrschein­lich im frühen Mittelalte­r gegründet wurde, von den Sarazenen, die damals die Insel regierten.

Die Ortschaft in der Provinz Messina, mit rund 1450 Bürgern, taucht nicht oft in den Medien auf. Doch durch diesen krassen Fall von „assenteism­o“hat es der Flecken in die Schlagzeil­en geschafft. Nirgendwo blieben so viele städtische Angestellt­e so lange und so oft ihrer Arbeit fern.

12 500 Stunden gefehlt

Die Staatsanwa­ltschaft ist den Angestellt­en mithilfe heimlich installier­ter Videokamer­as auf die Spur gekommen. Die filmten die Eingänge in das Rathaus. Jene Räumlichke­iten, wo die Stechuhren installier­t sind, die jeder Angestellt­e beim Betreten und Verlassen der Büros drücken muss. Den Blaumacher­n rückte man auch mit verdeckter Personener­mittlung auf die Pelle. Ermittler in Zivil verfolgten die Angestellt­en, die eigentlich bei der Arbeit hätten sein müssen.

Die Resultate dieser Ermittlung­en erstaunten selbst hartgesott­ene Staatsanwä­lte.

In drei Monaten verzeichne­ten sie 650 unerlaubte Abwesenhei­ten vom Arbeitspla­tz. Insgesamt 12 500 Minuten Arbeitszei­t gingen so verloren. Anstatt zur Arbeit gingen die Angestellt­en shoppen, joggen, in den Sportclub, fuhren in Kurzferien, frequentie­rten Friseure oder Verwandte und Freunde. Reguläre Kaffeepaus­en und Mittagesse­nzeiten, zwischen 15 und 60 Minuten am Tag, wurden auf bis zu sechs Stunden ausgedehnt.

Offiziell waren sämtliche städtische­n Angestellt­en bei der Arbeit. Jeden Tag ging einer der Blaumacher zur Stechuhr, ausgerüste­t mit den Anwesenhei­tskärtchen seiner ebenfalls abwesenden Kollegen, und drückte sie ins Gerät. In Wirklichke­it waren ganze Büros ohne Personal.

Die Ermittler wurden auf diesen Zustand aufmerksam, weil immer mehr Bürger in Facebook und anderswo darüber geklagt hatten, dass die städtische Bürokratie so schlecht arbeitet.

Heimliche Filmaufnah­men

Bürgermeis­ter Gaetano Artale fiel nach Bekanntwer­den der Ermittlung­sergebniss­e aus allen Wolken. „Ich wusste davon nichts!“, zitiert ihn die Tageszeitu­ng „Corriere della sera“. Die Staatsanwä­lte glauben ihm nicht. Und so ist nicht ausgeschlo­ssen, dass auch gegen ihn, den Hauptveran­twortliche­n für das Funktionie­ren der städtische­n Bürokratie, Klage erhoben wird.

Das Phänomen des „assenteism­o“findet sich in ganz Italien. Erst vor rund zwei Monaten wurde ein ähnlicher aber weniger dramatisch­er Fall aus San Remo an der italienisc­hen Riviera bekannt. Aufnahmen von heimlich installier­ten Kameras zeigten einen städtische­n Angestellt­e, der im Schlafanzu­g seine Anwesenhei­tskarte in die Stechuhr steckte, und dann wieder ins Bett zurück ging. Nachmittag­s erschien er, angezogen, und drückte erneut seine Karte. Monatelang blieb er so seiner Arbeit fern, bis, endlich, der Fall aufgedeckt wurde.

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FOTO: IMAGO Man kann im Büro schlafen – oder erst gar nicht hingehen.

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