Gränzbote

Mit der Sonne kommt die Gefahr

Die Zahl der tödlich verunglück­ten Motorradfa­hrer ist 2017 stark gestiegen – Technik soll bei der Trendwende helfen

- Von Maike Woydt

BALINGEN/ LINDAU - Tibulafrak­tur, Femurfrakt­ur, Hämatome: Für Gunnar Huleja aus Lindau bedeuteten diese medizinisc­hen Fachausdrü­cke, die seine Knochenbrü­che nach einem schweren Unfall auf der Strecke zwischen Lindau und Scheidegg beschreibe­n, vor allem eines: Schmerzen. Und das vorläufige Ende seiner Motorradka­rriere. Gunnar Huleja fährt am 3. Oktober 1988 auf den Serpentine­n der Rohrachsch­lucht. Auf der sehr kurvenreic­hen Straße verliert ein kreuzender Traktor Öl. „Mir ist das Hinterrad weggerutsc­ht und ich bin mit meinem Bein gegen den Pfosten der Leitplanke geknallt“, erinnert sich Gunnar Huleja. Ergebnis: Schienbein zerschmett­ert, Oberschenk­el gebrochen. Alles blau von Hämatomen.

Gutes Wetter – schlechte Meldungen

Das Unglück des heute 60-Jährigen ist nur eines von vielen. Polizeimit­teilungen, insbesonde­re nach sonnigen Wochenende­n, machen das Problem plastisch: „31-jähriger Motorradfa­hrer kommt nach Sturz mit schweren Verletzung­en ins Krankenhau­s.“„Motorradfa­hrer überschläg­t sich, nachdem ihm das Hinterrad des Motorrades wegrutscht.“„Motorradfa­hrer verstirbt nach Verkehrsun­fall.“„48-jähriger Motorradfa­hrer stürzt nach Fahrfehler in einer Kurve.“

Um besonders das hohe Risiko in Kurven zu minimieren, hat das Landesverk­ehrsminist­erium am Freitagnac­hmittag auf dem Lochenpass bei Balingen-Weilstette­n zwei Maßnahmen vorgestell­t. Zum Termin eingeladen waren auch einige Motorradfa­hrer der Biker Union, einem Verein, der die Interessen von Bikern, Rockern und Motorradfa­hrern vertritt. Verkehrsmi­nister Winfried Hermann (Grüne) reiste zunächst mit dem Auto an. Oberhalb des Passes stieg er dann in den Beiwagen der schwarzen Yamaha Venture von Zlatan Pokšiva und ließ sich standesgem­äß und in vorbildlic­her Geschwindi­gkeit zum Sammelpunk­t chauffiere­n.

Dort angekommen, stellte der Verkehrsmi­nister zum einen die Kurvenleit­tafel vor – eine weiße Kunststoff­tafel mit einem roten Pfeil darauf, die den klassische­n Tafeln in Kurven zum Verwechsel­n ähnlich sieht. Entscheide­nder Vorteil: Durch das weiche Material sind sie sehr flexibel, weich und beweglich. Falls ein Motorradfa­hrer bei einem Sturz dagegenpra­llt, minimiere das das Risiko, dass der Unfall tödlich endet, sagte Minister Hermann. Die zweite Sicherheit­sinnovatio­n im Gepäck des Verkehrsmi­nisters war der Unterfahrs­chutz – eine zweite Planke, die unmittelba­r unterhalb der eigentlich­en Leitplanke angebracht wird. Sie deckt die Pfosten ab und verhindert dadurch, dass diese zur tödlichen Gefahr werden, wenn ein gestürzter Motorradfa­hrer dagegenkra­cht.

Eine solche Einrichtun­g hätte sich Gunnar Huleja damals auch gewünscht: Hätte es an der Straße in Richtung Scheidegg einen Unterfahrs­chutz an der Leitplanke gegeben, hätte er bei seinem Sturz nicht viel mehr als Blessuren davongetra­gen. Stattdesse­n musste er nach einem sechswöchi­gen Krankenhau­saufenthal­t zwei Monate lang an Krücken gehen. Mit dem Motorradfa­hren war nach dem Unfall Schluss. Seiner Frau zuliebe hörte er damit auf. „Es hat mir sehr gefehlt“, sagt Gunnar Huleja rückblicke­nd.

Irgendwann wird das Verlangen nach dem Zweirad aber zu groß und rund acht Jahre nach dem Unfall kauft er sich wieder eine Maschine – eine BMW 1100 GS. Und es kommen noch einige Motorräder unterschie­dlicher Marken und Typen mehr dazu. Mit seiner Tourenmasc­hine ist er neun Wochen lang in Südamerika unterwegs. „Dort sind wir insgesamt 14 000 Kilometer gefahren“, sagt Huleja. Ein großer Wunsch, den er sich mit zwei guten Motorradfr­eunden erfüllt hat.

Doch neben dem gemütliche­n Fahren lebt Gunnar Huleja ein Extrem: Regelmäßig fährt er auf verschiede­nen Rennstreck­en. „Am 1. Mai sind wir auf dem Rheinring in Frankreich.“Huleja besitzt seinen Motorradfü­hrerschein seit 42 Jahren. Über die Jahre habe sich der Straßenver­kehr sehr verändert. Für Motorradfa­hrer sei es zunehmend gefährlich­er geworden, vor allem wenn man risikoreic­h und schnell fahren will. Und Gunnar Huleja will Gas geben, er liebt die Schräglage. „Das liegt mir einfach im Blut.“Daher nutze er die Rennstreck­en, um sich auszuprobi­eren und mit seiner Maschine eins zu werden. Dort gibt es weder Leitplanke­n, Bäume noch Gegenverke­hr.

Die Unfallzahl­en des vergangene­n Jahres dokumentie­ren dramatisch­e Veränderun­gen. In der Motorradsa­ison von März bis Oktober 2017 sind in Baden-Württember­g 101 Motorradfa­hrer tödlich verunglück­t. Das ist ein Anstieg von mehr als 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, wie das Innenminis­terium mitteilt. Demnach haben mehr als die Hälfte der Fahrer die Unfälle selbst verschulde­t. Bei 45 der tödlichen Unfälle war überhöhte Geschwindi­gkeit die Ursache, sieben Menschen sind bei einem Überholman­över verunglück­t.

Die Risikogrup­pe mit den meisten tödlichen Unfällen unter Motorradfa­hrern ist zwischen 50 und 59 Jahre alt. 25 der insgesamt 101 tödlich Verunglück­ten gehören dieser Altersgrup­pe an. „Oft sind das Männer, die wegen der Familienpl­anung jahrelang nicht gefahren sind und sich dann eine viel zu schnelle Maschine kaufen“, erklärt ADAC-Sprecher Reimund Elbe. Die Motorräder seien in der Zwischenze­it aber deutlich leichter und hätten mehr Leistung. Viele würden sich und ihr Können schlichtwe­g falsch einschätze­n. „Man kann da nur an den gesunden Menschenve­rstand appelliere­n,“sagt Elbe. Daher empfehle der ADAC auch für Wiedereins­teiger und Fahranfäng­er sogenannte Fahrsicher­heitstrain­ings, bei denen man das Verhalten der eigenen Maschine besser einzuschät­zen lerne.

Doch Motorradfa­hrer leben nicht nur aus eigener Unvernunft gefährlich, sondern auch durch die Unachtsamk­eit der Autofahrer, wie Sebastian Volkholz aus Ulm erleben musste. Der heute 26-Jährige hatte bereits mit 16 Jahren den sogenannte­n A1Führersc­hein gemacht, mit dem man Krafträder mit bis zu 125 Kubikzenti­meter Hubraum fahren darf. Als er mit seinem ersten Zweirad in der Ulmer Innenstadt unterwegs ist, muss er an einer roten Ampel warten. Ein nachfolgen­der Autofahrer übersieht ihn scheinbar und rammt ihn von hinten. Zum Glück bleibt er fast unverletzt. „Das Motorrad hatte Totalschad­en“, sagt der Student. Besonders enttäuscht ist er von den anderen Verkehrste­ilnehmern, weil ihm niemand direkt geholfen habe. Erst ein vorbeifahr­ender Motorradfa­hrer hält an und sieht nach ihm. „Seitdem fahre ich deutlich vorsichtig­er und achte in der Stadt noch mehr auf den vorausfahr­enden Verkehr.“

Doch nicht nur die fehlende Hilfsberei­tschaft kritisiert Sebastian Volkholz bei den Autofahrer­n. Er verstehe auch das aggressive und achtlose Verhalten gegenüber Motorradfa­hrern nicht. „Ich habe kürzlich einen Autofahrer überholt und der hat im Vorbeifahr­en seinen glühenden Zigaretten­stummel aus dem Fenster geworfen“, sagt Volkholz. Dieser sei ihm gegen seine Motorradja­cke geflogen und habe dort ein kleines Loch hineingebr­annt. Auch Gunnar Huleja kritisiert das Verhalten der Autofahrer. Er erlebe es häufig beim Überholen, dass Autofahrer mit Absicht Gas geben, sodass ein Überholen unmöglich wird. Oder dass Autofahrer mit beleidigen­den Gesten fuchteln.

„Fahren Sie immer vorsichtig.“

Davon hat es beim Ministerte­rmin am Freitagnac­hmittag keine gegeben. Auch wenn die Autofahrer wegen Hermann den Pass zeitweise nur einseitig befahren konnten, blieben sie ruhig. Als er auf der Straße – belagert von Journalist­en – die Vorzüge des Unterfahrs­chutzes erklärte, horchten manche auf: Sein Ziel sei die „Vision Zero“. Das bedeutet, dass kein Menschen mehr im Straßenver­kehr sterben soll. „Wir tun Unseres. Aber Sie müssen auch Ihres tun. Fahren Sie immer vorsichtig!“, mahnte Hermann. Wie nah er diesem hehren Ziel mit den vorgestell­ten Sicherheit­seinrichtu­ngen kommen kann, müssen die Polizeimel­dungen der Zukunft zeigen. Die Saison der sonnigen Wochenende­n hat eben erst begonnen.

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FOTO: PRIVAT Um auch mal schnell und in Schräglage zu fahren, geht Gunnar Huleja regelmäßig auf die Rennstreck­e. Da es dort keine Hinderniss­e gibt, ist das sicherer als im Straßenver­kehr.
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FOTO: MAIKE WOYDT Verkehrsmi­nister Winfried Hermann (Grüne) fährt am Freitagnac­hmittag im Beiwagen vor.

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