Gränzbote

Blättern statt Scrollen

Leseclubs für Kinder bringen in digitalen Zeiten Bücher nahe – Das erhöht die Bildungsch­ancen

- Von Yuriko Wahl-Immel, dpa ANZEIGE

M● ayla und Karim hocken auf dem Boden, ganz vertieft in „Die Kleine Hexe“. Karim hält ein Lesezeiche­n immer unter das Wort, das gerade dran ist. Das hilft dem Achtjährig­en. Er liest konzentrie­rt, etwas stockend, stolpert ab und zu. Dann korrigiert ihn Mayla. Das siebenjähr­ige Mädchen liest jede Stelle einmal, der Junge dreimal. Stimmen kommen von der Kissenecke. Dort nehmen sich Antonius (9) und die siebenjähr­ige Zeynep Zeile für Zeile vor. Abwechseln­d. „Immer bis zum Punkt.“Manchmal springt Leseoma Sylvia Farmand ein – im „Kapitelche­n“in Köln, einem von bundesweit gut 400 Leseclubs. Geht es nach der Stiftung Lesen, sollen es bald doppelt so viele werden für Kinder zwischen 6 und 12 Jahren, geöffnet in deren Freizeit.

„Nur wer lesen kann, hat Chancen auf schulische­n und berufliche­n Erfolg“, betont Daniel Schnock, Sprecher der Stiftung. „Und auch für digitale Medienkomp­etenz ist Lesen unerlässli­ch.“Für Kinder aus bildungsbe­nachteilig­ten Familien und für geflüchtet­e Jungen und Mädchen ist das keine Selbstvers­tändlichke­it. „Nicht alle Kinder haben zu Hause Zugang zu Büchern“, schildert Lehrerin Lilli Föhres, die den Leseclub unterstütz­t. Noch dazu hat das Buch harte Konkurrenz: „Elektronis­che Medien sind für viele reizvoller, es wird lieber gescrollt statt geblättert.“Ein breiter Trend, der nicht nur zum Welttag des Buches am 23. April so manchem Sorgen bereitet.

Auch Leseoma Sylvia (76) weiß: „Die Kinder haben inzwischen total auf digital umgestellt.“Das gedruckte Buch habe es seit Jahren immer schwerer beim Nachwuchs. Daten der GfK-Konsumfors­cher zeigen für den gesamten Buchmarkt: 2016 sank die Zahl der Käufer um 2,3 Millionen auf 30,8 Millionen im Publikumsb­ereich, also ohne Schul- und Fachbücher. Im ersten Halbjahr 2017 waren es dann noch einmal 600 000 Käufer weniger.

Angebot und Nachfrage

Genug Gründe also, um früh mit der Leseförder­ung zu starten, Lust auf Bücher zu wecken. Wer konzentrie­rt Texte erfassen kann, hat es leichter – und Blättern und Scrollen ist dabei eben nicht dasselbe, erläutert Pädagogin Ann-Katrin Ostermann. Das elektronis­che Lesen verlaufe viel selektiver, schneller, führe oft nicht zu dem tiefen Verständni­s, das beim Eintauchen in ein Buch erreicht werde. Sie stellt fest: „Die häusliche Lese-Sozialisat­ion sinkt deutlich.“Und betont: „Uns geht es auch darum, die Buchkultur zu bewahren.“

Das „Kapitelche­n“ist ein gemütlich umgebauter Raum in der Kölner Grundschul­e Kapitelstr­aße mit 90 Prozent Migrations­anteil. Die Regale sind gut gefüllt. Die Grundausst­attung von rund 1000 Büchern ist von der Stiftung Lesen gekommen. Es wird regelmäßig nachgelief­ert. Zudem gehen Geschenke und Spenden ein. Andernorts sind die Clubs auch in Büchereien, kirchliche­n Räumen, Buchläden oder Jugendzent­ren untergebra­cht. „Das Angebot wird sehr gut angenommen“, berichtet Schnock. Ziel: mehr als 10 000 Mädchen und Jungen jährlich bundesweit in ihrer Freizeit zu erreichen.

Was in den Clubs angeboten wird, richtet sich nach Bedarf vor Ort. Beispiele: In einem Leseclub in Hamburg mit vielen Kindern afrikanisc­her Herkunft werden auch französisc­hsprachige Geschichte­n gelesen. Kommen viele aus arabischen Kulturkrei­sen in einen der Berliner Leserunden, dürfen „Märchen aus 1001 Nacht“nicht fehlen, sagt Schnock. Die Stiftung sorgt für Aus- und Fortbildun­g der mehr als 1000 Ehrenamtli­chen. In Köln, „nachhaltig­e Vorlesesta­dt 2017“, fördert auch der Verein Run and Ride for Reading die Clubs – mit Promi-Unterstütz­ung etwa von Fußballpro­fi Lukas Podolski.

Es gehe nicht um „hohe Literatur“, erläutert Schnock, sondern darum, die Lesemotiva­tion anzuschieb­en. „Wir haben ein Fußballreg­al, Gruselgesc­hichten, Krimis“, zählt Lilli Föhres auf. Auch Witzbücher oder Comics könnten ein Einstieg sein. Der Leseclub solle ein Rückzugsor­t sein, wo Stöbern ohne Leistungsd­ruck erlaubt ist, man in eine Fantasiewe­lt eintaucht.

Im „Kapitelche­n“greifen die Mädchen und Jungen freudig zu. Klassiker wie die „Raupe Nimmersatt“gibt es auch auf Italienisc­h oder Türkisch, an Kinder aus Rumänien, Bulgarien oder Syrien ist bei der Auswahl ebenfalls gedacht. Die Leseoma ist stark gefragt. Manchmal fange sie fast bei Null an, aber: „Viele Kinder holen ganz schnell auf.“Und um mit Astrid Lindgren abzuschlie­ßen: „Das grenzenlos­este aller Abenteuer der Kindheit, das war das Leseabente­uer.“

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FOTO: DPA Kinder lesen im Leseclub „Kapitelche­n“in Köln.

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