Für Frieden demonstrieren, kiffen und die freie Liebe
Musical „Hair“entführt Zuschauer in der Stadthalle in die Zeit von Hippies und Friedensbewegung
●
TUTTLINGEN – Kräftig am Rad der Zeit gedreht: In die späten 60er-Jahren zurückversetzt sahen sich die 444 Besucher des Musicals “Hair” am Mittwochabend in der Stadthalle. Lautstark forderten sie gemeinsam mit dem US-amerikanischen Ensemble „Make love, not war!“und applaudierten zuletzt stehend und tanzend.
Heftig demonstriert wird auf der Bühne, aber auch nicht weniger engagiert gekifft und geliebt. Gut die letzten beiden Tätigkeiten nur angedeutet, kein Rauchmelder reagiert auf die Haschisch-„Tüten“, auch der Sex bleibt beim „So tun als ob“. Allerdings schon sehr deutlich, wie bei dem Song „Sodomy“, den der in ein Fell gehüllte Woof (dargestellt von Michael Moore) und seine Sippschaft singen. Scham? Nö, nicht bei „Hair“. Dagegen lehnten sich die Hippies genauso auf wie gegen das Spießbürgertum, den VietnamKrieg und die Rassentrennung. So besingt auch ein Trio aus „white girls“die Vorteile der „Black Boys“.
Überzeugende Schauspieler
Die „Supremes“, also die farbigen Mädels der 16-köpfigen Flower-Power-Gemeinde, setzen dagegen und schwärmen von den „white boys“. Einer von denen ist der stämmige „Berger“(gespielt vom blondgelockten Brett Travis), Chef der Gruppe und Partner von Sheila (Blues- und Jazzsängerin Yarissa Millan, deren Stimme bei „Easy to be hard“für großen Jubel im Saal sorgt). Als der junge Provinzler Claude Hooper Bukowski (überzeugend gespielt von Nick Anastasia) zu der Gruppe stößt, lässt Berger ihn gewähren, auch im Umgang mit Sheila. Claude ist im Tierkreiszeichen des Wassermanns (Aquarius) geboren: vielversprechend für eine Hippie-Karriere und namensgebend für einen der bekanntesten Songs des Musicals. Wären da nur die die strengen Eltern, die aus dem Off schelten, warnen und Druck ausüben. So zögert Claude im letzten Moment, vor er seinen Einberufungsbefehl verbrennt und die Gedanken an die Flucht nach Kanada aufgibt. Er zieht die Uniform an – und wird einer der 16 589 US-Soldaten, die anno 1968 in Vietnam gefallen sind. Seine Freunde trauern um Claude, der stocksteif unter dem Sternenbanner liegt. Ein weiteres Kennzeichen der 68er-Jahre finden in der deutsch-amerikanischen Inszenierung des 52 Jahre alten Musicals Platz: die Neigung zu vornehmlich asiatischen Religionen. Wer kennt nicht den Chant „Hare Krishna, Hare Rama“mit der klaren Anleitung „be in, drop out“?
Kreative Kostüme
Viel Spaß bei der Arbeit musste Kostümdesignerin Claudia Nitzsche gehabt haben. Die 1969 geborene Berlinerin konnte sich da so richtig austoben – bis hin zum Sari, aus dem, abgewickelt, ein Banner wurde: „Ich glaube an die Liebe“, mehrsprachig aufgemalt. Die Nacktszene – in der originalen Broadway-Version noch nicht enthalten – fiel in Tuttlingen kurz aus. „Wenn’s was zu sehen gibt, machen die das Licht aus“, bedauerte eine Zuschauerin in der Pause.
Regisseurin Kendra Payne, die selbst mittanzt, setzt auf Live-Musik. So ist eine vielköpfige deutsche Band mit auf Tournee, um die Melodien und Rhythmen von Galt MacDermot umzusetzen. Ansprechend und originell war das – kostenlose – Programmheft in Form zweier Zeitungseiten: Kein Hochglanz, dafür alles Wissenswerte rund um die dreimonatige Tournee mit über 80 Spielorten.