Aufbruch in russische Seelengefilde
Dmitry Masleev und das SWR-Symphonieorchester unter Christoph Eschenbach eröffnen das Bodenseefestival
● FRIEDRICHSHAFEN - Als Gastland des Bodenseefestivals 2018 folgt Russland auf die Vereinigten Staaten von Amerika im vergangenen Jahr. Das bis zum 27. Mai dauernde Festprogramm widmet sich in mehr als 60 Veranstaltungen der vielfältigen russischen Kultur. „Artist in residence“ist diesmal der 30-jährige Pianist Dmitry Masleev. Beim Eröffnungskonzert mit ihm und dem SWR-Symphonieorchester unter der Leitung von Christoph Eschenbach im Graf-Zeppelin-Haus gab es viel Beifall für Paradewerke von Sergej Rachmaninow und Pjotr Tschaikowsky.
Zuvor hatte die Russlandkennerin Christine Hamel im Rahmen der Eröffnungsfeier fachkundig die Frage erörtert, was denn nun die spezifische kulturelle Identität des Gastlandes ausmache. Umrahmt wurde ihr Festvortrag von Musikbeiträgen mit Detlev Mielke (Cello) und Yukie Togashi (Klavier). Beim Abendkonzert konnte man sich dann seine eigenen Gedanken machen über „typisch russischen Mut zu Emotionen“, Suche nach „sakraler Welteinheit“und „ständige Selbstvergewisserung zwischen westlichen Importen und eigenen Wurzeln“.
Zwei „Schlachtrösser“
Auf dem Programm standen zwei „Schlachtrösser“russischer Orchestermusik: Rachmaninows beliebtes drittes Klavierkonzert und die nicht minder populäre fünfte Sinfonie von Tschaikowsky. Rachmaninow hat sein monumentales Konzert d-Moll 1909 für eine Amerika-Tournee komponiert, bei der er sich auch als Pianist vorstellen und den Geschmack des dortigen Publikums treffen wollte. Nicht nur im horrend schwierigen Solopart des knapp dreiviertelstündigen Werks, sondern auch in den sinfonischen Dimensionen der Instrumentation werden alle Register pathetischer Steigerung gezogen.
Masleev bot in Friedrichshafen eine technisch makellose Interpretation der vom Komponisten selbst einmal scherzhaft als „Elefantenkonzert“bezeichneten drei Sätze. Aufgrund relativ heller Intonation des Flügels gelang eine glasklare Zeichnung schneller Passagen bis in tiefste Regionen. Der Preis dafür war eine gewisse metallische Schärfe bei vollgriffigen Akkorden in hoher Lage. Masleev entfaltete den oft komplexen Klavierpart sehr aufgelockert und ließ sich selbst bei massivem Fortissimo-Getöse des Orchesters nicht zu protzender Kraftmeierei verführen.
Eschenbach, der als Dirigent hier von seinen pianistischen Erfahrungen profitierte, wachte klug über die dynamische Balance und servierte dem Solisten das bewegte Geschehen des opulenten Orchestersatzes wie auf Händen. Immer wieder suchte er auch Blickkontakt zu Masleev, der darauf freilich wenig einging und optisch auch kaum mit dem Orchester kommunizierte. Stattdessen blieb er meist ganz in seine manuellen Abläufe vertieft und passte sie maßstabsgetreu ein in das metrische Raster der Begleitung, ohne als Dompteur der Klangmassen sein Terrain zu behaupten.
Masleev, der in Südostsibirien geboren wurde, in Moskau studiert hat und seither weltweit als Pianist überwiegend mit Mainstream-Repertoire unterwegs ist, verfügt zweifellos über eminente Begabung. Als er 2015 den renommierten Tschaikowsky-Wettbewerb gewann, wurde ihm makellose Technik bescheinigt. Genau diese Makellosigkeit jedoch, diese vorhersehbar perfekte Reproduktion von Noten allein genügt nicht, solange selbst die Phrasengestaltung noch angelernt und unpersönlich wirkt. Ein unverwechselbares Interpretenprofil erfordert schöpferisches Format und spürbaren Ausdruckswillen.
Mit klaren dynamischen Abstufungen startete Eschenbach nach der Pause in Tschaikowskys trostlos-düster anhebende „Schicksalssinfonie“. Ihren Beinamen verdankt sie jenem durch alle vier Sätze spukenden Motiv, das Klarinetten in tiefer Lage zu Beginn der Kopfsatzeinleitung in der Art eines Trauerchorals intonieren. Eschenbach dirigierte auswendig und modellierte den Strom der Musik mit kräftigem Zug nach vorn, ohne Details zu vernachlässigen. Unversehens tauchte man ein in Tschaikowskys impulsive „Erzählung“, die auch vor trivialen Momenten nicht zurückschreckt.
Natürlich bewies das aus der Fusion der ehemaligen sinfonischen Klangkörper des SWR hervorgegangene Orchester Professionalität etwa bei kompakt synchronen Pizzicati, die als Echo verhängnisvoller Tutti„Schicksalsschläge“tropfend verebbten. Insgesamt jedoch blieb der homogene Sound, zu dem man an diesem Abend fand, zurück hinter jener reifen Klangkultur des Vorgängerorchesters aus Freiburg und Baden-Baden, das bisher traditionell das Bodenseefestival eröffnet hat. Ob Teodor Currentzis, der im Herbst die Stabführung übernimmt, dieses Niveau in absehbarer Zeit wieder erreichen kann, bleibt abzuwarten. Auch er hat das einst als Unterzeichner eines offenen Briefs gegen die Fusion seinerzeit bezweifelt.