Eine Fülle an Wahrnehmungen
Doppelausstellung: Museum Ulm und Kunsthalle Weishaupt fragen „Warum Kunst?“
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ULM - Die Natur hat die angenehmen Gefühle erfunden, um uns zu nützlichem Verhalten zu verführen. Damit wir uns ernähren und vermehren, empfinden wir Spaß am Essen und am Liebesleben. Weil Menschen nur in der Gemeinschaft existieren können, fühlen wir uns im Kreis unserer Familie und Freunde geborgen. Doch warum gibt es Malerei, Skulptur, Film, Oper oder Rockmusik? Weder verbessert Kunstsinn unsere Aussichten im Lebenskampf noch erhöht er unsere Fortpflanzungschancen. Aus Sicht der Evolution ist das also reine Verschwendung. Eine neue Doppelausstellung in der Kunsthalle Weishaupt und dem Museum Ulm geht der Frage „Warum Kunst?“nach. Auf 2000 Quadratmetern sind rund 200 Werke von 100 Künstlern zu sehen. Eine Mammutschau, die dem Besucher die Augen öffnet.
Die Idee zum ersten großen Gemeinschaftsprojekt der beiden Häuser entstand 2017, als die sechs Höhlen auf der Schwäbischen Alb zum Unesco-Weltkulturerbe ernannt wurden. Sie gelten als wichtigste Fundstätte menschlichen Kunstschaffens. Spektakulärstes Stück ist in diesem Zusammenhang die 40 000 Jahre alte Löwenmensch-Skulptur. Das älteste bekannte Kunstwerk der Welt gehört ja zur Sammlung des Ulmer Museums und dient jetzt als Schlüsselfigur für die Ausstellung.
Komplexes Thema
Die Antwort auf die Frage „Warum Kunst?“ist komplex. Stefanie Dathe, Leiterin des Museum Ulm und Kuratorin der Schau, hat sich deshalb auf drei aussagekräftige Themenschwerpunkte konzentriert: auf Vorstellungswelten und Glaubensinhalte, auf die Auseinandersetzung mit Wirklichkeit und Zivilisation, auf sinnliche Wahrnehmungsphänomene und Identität. Anhand von exemplarischen Positionen aus Kunstgeschichte und Gegenwart werden Wesen und Funktionen von Kunst aufgezeigt. Also, was Künstler zu unterschiedlichen Zeiten weltweit antreibt und inspiriert und wie der Mensch davon profitiert. Die Exponate stammen vor allem aus den Beständen des Museums Ulm und der Kunsthalle Weishaupt. Hinzu kommen Arbeiten aus der Kunsthalle Memmingen sowie aus drei Privatsammlungen.
Es geht los im Weishaupt-Gebäude mit einem Geräusch. Da scheint ein Mensch ins Wasser zu springen. Dann hört man ein Blubbern. Hier geht natürlich keiner baden, sondern diese Töne sind Teil des Videos „Isolde’s Acension“(2005) von Bill Viola. Im Mittelpunkt steht eine bekleidete Frau, die in der flüssigen Schwerelosigkeit des Nichts in Zeitlupe gen Himmel fährt. Die magische Arbeit, die den Betrachter förmlich ins Bild hineinzieht, weckt Assoziationen an Tod und Auferstehung.
Kunst ist oft religiös motiviert. Ob Kultfiguren wie der Löwenmensch, Nagelfetische aus Afrika oder Keramikfiguren aus Peru – sie alle waren einst für rituelle Feste gedacht, wohl um Dämonen im Alltag zu bändigen. In der Kunst der Weltreligionen geht es darum, den Menschen Glaubensinhalte sichtbar zu machen. Sei es etwa mit einer Darstellung der Mutter Maria im Christentum oder der Göttin Tara im Buddhismus. Solche Skulpturen oder Malereien waren fast immer Auftragsarbeiten, die natürlich auch der Repräsentation, der Darstellung von Macht und Status dienten.
Erst mit der Wende zum 19. Jahrhundert verändern sich die Ansprüche an ein Werk. Die Künstler machen sich zunehmend frei vom Auftraggeber und wählen selbst ihre Themen, wie auf den Infoblöcken in Ulm nachzulesen ist. Religiöse Motive und wesentliche Fragen des Lebens üben aber bis heute eine große Anziehungskraft auf Künstler aus. Neben Bill Violas Himmelfahrt wäre da in Ulm zum Beispiel Ben Willikens monumentales Gemälde eines leeren Saales, das an das letzte Abendmahl von da Vinci erinnert.
Kunst kann aber auch der Aneignung von Wirklichkeit dienen. In historischen Malereien wie dem prachtvollen Porträt einer Ulmer Patrizierin aus dem 17. Jahrhundert von Andreas Schuch oder der eher hässlichen Darstellung des berühmten Ulmer Diebesehepaars Gaßner von 1788 hat man versucht, die Realität abzubilden. Und wenn Künstler der Gegenwart mit Computeranimationen arbeiten, dann ist das ein Abbild unserer Zeit.
Spannende Dialoge
„Natürlich geht es in der Kunst zuallererst um Ästhetik, die sich mit dem Zeitgeschmack wandelt“, erklärt Stefanie Dathe. Doch mittlerweile wollen Künstler mit ihren Werken auch den Betrachter herausfordern und unbequeme Fragen zu gesellschaftlichen Problemen stellen – ob zu Konsum, Gewalt, Migration oder Schönheitswahn. Gleichzeitig kann Kunst etwa Sinneserfahrungen ermöglichen. Man denke nur an die flirrenden Bilder der Op-Art. Die Mehrdeutigkeit ist im Grunde ein großes Plus der Kunst.
Die Ausstellung ist dramaturgisch sehr gut aufgebaut. Sie lebt von gewagten Gegenüberstellungen zwischen historischen und zeitgenössischen Arbeiten aus völlig unterschiedlichen Kulturen zu ähnlichen Themen. Und das macht den Reiz des Rundgangs durch die beiden Häuser aus. Einziges Manko: Der Besucher wird von der Fülle überwältigt. „Jeder Themenschwerpunkt kann aber auch für sich stehen. Man muss nicht alles auf einmal anschauen“, so die Kuratorin.
Was am Ende bleibt, ist, dass Kunst nicht nur schön, sondern auch ein Abenteuer sein kann. Dass sie die Sinne des Betrachters reizt – mal positiv, mal negativ. Man geht jedenfalls hinterher verändert hinaus in den Alltag. Hirnforscher wie etwa Vilaynur Ramachandran haben übrigens inzwischen festgestellt, es gibt eine Verbindung zwischen visuellen Hirnzentren und dem limbischen System, dem emotionalen Kern des Gehirns. Sie gehen davon aus, dass wir in der Kunst eine Überdosis normaler Wahrnehmungen genießen. Künstler würden mit diesen Momenten winzigen Glücks spielen und sie steigern, indem sie uns eine Portion hoch konzentrierter Reize verabreichen. Kunstgenuss ist also bei Weitem keine so elitäre Angelegenheit, wie man meinen möchte, sondern vielmehr ein elementares Bedürfnis.
Warum Kunst? Ausstellung in der Kunsthalle Weishaupt und im Museum Ulm bis 7. Oktober, geöffnet Di.-So. 11-17 Uhr, Do. 11-20 Uhr. Weitere Infos unter: www.kunsthalle-weishaupt.de www.museumulm.de