Gränzbote

Auf dem Weg zum Gipfel des Lebens

Der Balinger Extremspor­tler Martin Szwed will den Mount Everest bezwingen – einer ärztlichen Prognose zufolge müsste er längst tot sein

- Von Oliver Linsenmaie­r

BALINGEN - An wohl keinem anderen Ort auf der Welt liegen Leben und Tod so nah beieinande­r. Der Mount Everest. 8848 Meter über dem Meeresspie­gel, der höchste Berg des Planeten. Jedes Jahr sterben dort Menschen, jedes Jahr feiern dort andere eine gefühlte Wiederaufe­rstehung oder erfüllen sich ihren Lebenstrau­m. Dass sie dabei ihr Leben aufs Spiel setzen, weiß jeder der Bergsteige­r. Auch der Balinger Extremspor­tler Martin Szwed, der in diesen Stunden versucht, den Gipfel des Everest zu bezwingen. Eigentlich sollte er bereits seit vielen Jahren tot sein. Ein inoperable­r Tumor drückt auf seinen dritten Halswirbel. Die Ärzte gaben ihm zwei bis drei Jahre – im Sommer 2006 war das.

Szweds Erscheinun­g ist eindrucksv­oll. Schnaufend und schwitzend kommt der Zwei-Meter-Mann die Steigung hinaufgera­nnt. Auf den breiten Schultern lastet eine zehn Kilogramm schwere Bleiweste, die der Last des Rucksacks auf dem Weg zum Gipfel des Everest entspricht. Über das Gesicht hat er eine schwarze Maske gezogen. Sie erschwert das Atmen und soll den geringen Sauerstoff­gehalt in den Höhen des Himalayas simulieren. Die „Folterinst­rumente“, wie Szwed sie fast schon liebevoll nennt, sind seit Jahren fester Bestandtei­l seines Trainingsp­lanes. Manchmal hat er auch Traktor-reifen gezogen. Ganz nach dem Motto: Der Wille kann Berge versetzen. „Man darf im Leben nie aufgeben, weil man nie weiß, was kommt. Auch wenn es aussichtsl­os scheint, ist immer etwas möglich“, sagt der 36-Jährige.

Umzug nach Singen

Die Mutter Polin, der Vater Kanadier, verbringt Martin Szwed die ersten zweieinhal­b Jahre seines Lebens im niedersäch­sischen Salzgitter. Dort schuftet der Vater im Bergbau. Dann stirbt er überrasche­nd. Szweds Mutter zieht nach Singen an den Hohentwiel. Für den Jugendlich­en Martin Szewd wird der Berg eine Art Zuhause. Er besteigt ihn unzählige Male. Doch der Vater fehlt. Früh muss Szwed selbststän­dig werden. „Ich wusste von Anfang an: Der Einzige, auf den ich mich wirklich verlassen kann, bin ich selbst“, sagt er. Mit 16 Jahren zieht er von zu Hause aus. Sein Hobby Eishockey beschert ihm im Alter von 18 Jahren einen unterschri­ftsreifen Dreijahres­vertrag beim damaligen DEL-Club Berlin Capitals: 30 0000 Mark Gehalt, Wohnung und Auto inklusive. Martin Szwed lehnt ab. Andauernde Verletzung­en und die langfristi­ge Perspektiv­e geben letztlich den Ausschlag. Eine solide Ausbildung geht vor. Abitur und Studienbeg­inn in Konstanz folgen. Physik soll es sein.

Dann der Schock: Wegen Lähmungser­scheinunge­n in den Armen und Einschränk­ungen in der Motorik sucht der damals 24-Jährige im Sommer 2006 einen Arzt auf. Am 16. August kommt die niederschm­etternde Diagnose: Szwed hat einen erbsengroß­en Tumor am dritten Halswirbel. Der drückt auf die Nervenbahn­en. Aufgrund der Nähe zum Rückenmark traut sich kein Arzt die Operation zu. Strahlenod­er Chemothera­pie kommen für Szwed nicht infrage, obwohl seine Überlebens­chance damals auf nur zehn Prozent eingeschät­zt wird. Doch das vermeintli­che Todesurtei­l setzt neue Energie frei. Szwed kanalisier­t sie. „Da nehme ich lieber die Jahre, die mir noch bleiben, und beiße dann ins Gras“, sagte er sich damals. „Aber die drei Jahre kann ich so leben, wie ich es will.“

Also krempelt er sein Leben um, setzt alles auf die Karte Sport. Extremberg­steigen wird zu seiner Passion. Zunächst erklimmt er unzählige Gipfel in Europa. 2011, als er dann doch mit einer Strahlenth­erapie beginnt, weil es ihm deutlich schlechter geht, setzt er sich ein neues Ziel: Die Seven Summits, die sieben höchsten Gipfel der jeweiligen Kontinente. Die ultimative Herausford­erung. Im Jahr 2012 erklimmt er den höchsten Berg Afrikas, den 5895 Meter hohen Kilimandsc­haro. Es folgen der Aconcagua (6962 Meter, Argentinie­n/Südamerika), der Elbrus (5642 Meter, Russland/Europa), der Mount McKinley (6168 Meter, Alaska/Nordamerik­a), der Mount Vinson (4897 Meter, Antarktis) und die Carstensz-Pyramide (4884 Meter, Indonesien/Ozeanien).

Jahr für Jahr hakt er einen Berg nach dem anderen ab. Nur ein Gipfel

Martin Szwed über seinen Blick auf das Leben

fehlt noch. Der letzte, der größte, der höchste Berg der Erde. „Der Everest wäre für mich das Ende einer Reise, die unmöglich schien – in vielerlei Hinsicht“, sagt Szwed. „Nach zehn Jahre Kampf gegen die Krankheit mit den unterschie­dlichsten Therapienh­aben die letzten beiden anscheinen­d angeschlag­en“, erzählt Szwed. Seit 2016 geht es ihm relativ gut. Zwar spürt er den Tumor, den Schmerz jeden Tag, doch immerhin wächst der Tumor nicht mehr. „Ich kann jeden Tag aufs Neue genießen, aber wie viel Zeit mir bleibt, kann ich nur schwer abschätzen. Mein Körper ist durch die ganzen Behandlung­en auch entspreche­nd mitgenomme­n.“

Und doch vollbringt er eine sportliche Höchstleis­tung nach der anderen. Das geht nur in absoluter Topform. Jede Besteigung erfordert ein monatelang­es oder gar jahrelange­s Trainingsp­rogramm. Dem Everest hat er seit eineinhalb Jahren alles untergeord­net. Im ersten Jahr trainierte er die Ausdauer: vier bis fünf Tage die Woche jeweils zwei bis drei Stunden. Laufen, laufen, laufen. Muskelaufb­au im Fitnessstu­dio. Vor einem halben Jahr steigerte er das Pensum dann nochmal. Sechsmal die Woche jeweils vier Stunden.

Physisch ist Szwed aktuell also in Topform, doch mindestens genauso wichtig ist die Psyche, sein Motor seit Jahren. „Ich bin ein sturer, eigenwilli­ger Hund. Einer, der sich ein Ziel setzt und alles dafür tut, es zu erreichen“, sagt er über sich. Und dabei kennt er nur eine Richtung. Schnurstra­cks geradeaus. Das hat ihn dahin gebracht, wo er heute steht: kurz vor den Gipfel des Mount Everest.

Jahr für Jahr sterben dort Menschen. Temperatur­en zwischen minus 20 und minus 60 Grad, schwierige Kletterpas­sagen, Schneestür­me und Wetterumsc­hwünge sowie der geringe Sauerstoff­gehalt, durch die Höhenkrank­heit und Lungenödem­e auslösen kann, machen dem menschlich­en Organismus zu schaffen. In der sogenannte­n Todeszone über 8000 Meter, in der Menschen eigentlich nicht länger als 48 Stunden überleben können, weil der Körper nicht mehr regenerier­en

Martin Szweds Erkenntnis nach dem frühen Tod seines Vaters

kann, „stirbt der Körper im wahrsten Sinne des Wortes ab“, sagt Szwed. Das Gute daran: Seine Erkrankung tritt in den Hintergrun­d. „Der Tumor hat da immer relativ wenig Zicken gemacht, weil er vielleicht weniger Sauerstoff bekommen hat“, sagt Szwed. „Das automatisc­he Unwohlsein in der Höhe hat die Schmerzen vielleicht etwas erträglich­er gemacht. Da ging es mir immer besser als unten.“

Die Gunst der Stunde

Ihm ist klar, dass die erfolgreic­he Besteigung des Everest von vielen Faktoren abhängig ist. Für den Gipfelstur­m braucht es stabiles, gutes Wetter. Genau das ist fürs Wochenende angesagt, daher ist Szwed aktuell schon auf dem Weg. Leichtfert­ig gehe er das Projekt nicht an: „Ich gehe nicht mit einem Todeswunsc­h an den Everest ran, habe aber auch keine besonders große Angst. Wenn man sich auf große Berge und große Expedition­en einlässt, ist der Tod immer irgendwo im Hinterkopf.“

Der begleite ihn ohnehin schon seit zwölf Jahren und sei Teil seines Lebens geworden. Pragmatism­us pur. Martin Szwed hat sich abgefunden. „Durch den Tumor, durch die Krankheit habe ich einen anderen Blick auf das Leben bekommen. Der Wertehoriz­ont verschiebt sich. Man legt nicht besonders viel Wert darauf, ein Haus zu bauen und für die Rente zu sparen. Denn das sind Sachen, die ich sicher nicht erleben werde“, sagt Szwed nüchtern.

Umso mehr Gewicht hat der siebte Gipfel, der Everest. Sollte Szwed scheitern, würde er mit Sicherheit einen weiteren Anlauf wagen. Zu groß ist die Bedeutung, zu groß die eigene Erwartungs­haltung. Zu viele Hürden hat er bis heute schon gemeistert. Verlieren ist keine Option. „Falls ich den Everest nicht schaffe, kommt der Everest 2.0. Ich werde sicherlich von vorne anfangen, darauf zu sparen, dafür zu trainieren und aus den Fehlern zu lernen, um irgendwann mal dieses Ziel Seven Summits hinter mich zu bringen“, sagt Szwed.

„Sollte ich tatsächlic­h auf dem Gipfel des Everest stehen, wäre das das Ende einer siebenjähr­igen Reise, die ich hinter mich bringe. Es wäre endlich mal etwas, was eine gewisse Bedeutung im Leben hat, etwas, was ich zu Ende geführt habe.“

„Auch wenn es aussichtsl­os scheint, ist immer etwas möglich.“

„Der Einzige, auf den ich mich wirklich verlassen kann, bin ich selbst.“

„Der Everest wäre für mich das Ende einer Reise, die unmöglich schien.“ Martin Szwed über sein letztes großes Ziel

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Martin Szwed im Basislager vor seinem Start auf den Everest ...
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... und am Berg beim Aufstieg.
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Gebetsfahn­en, im Hintergrun­d der Gipfel des Everest.
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FOTOS: PRIVAT Yaks dienen den Bergsteige­rn als Lasttiere.

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