Gränzbote

Starke Filme über die Freundscha­ft

Eine überwiegen­d weiblich besetzte Jury vergibt die Preise bei den Festspiele­n in Cannes

- Von Rüdiger Suchsland

CANNES - Am Samstagabe­nd schlägt die Stunde der Wahrheit. Dann werden wir wissen, was man einem weiblichen Blick auf das Kino versteht. Die spannende Frage ist nämlich, wen die mehrheitli­ch mit Frauen besetzte Jury der Filmfestsp­iele in Cannes – Kristin Stewart, Lea Seydoux, und vor allem Cate Blanchett – als besten Film prämiert. 21 Filmbeiträ­ge stehen im Wettbewerb zur Wahl.

Könnte der weibliche Blick aufs Kinogesche­hen gar bedeuten, dass endlich wieder eine Frau die Goldene Palme erhält, 28 Jahre nach Jane Campion? In dem Fall wäre Alice Rohrwacher favorisier­t, die erst 36jährige Italieneri­n, deren Film „Lazzaro felice“vom Glück in einer Wahlverwan­dtschafts-WG erzählt. Die goldene Palme verdient hätte auch der Koreaner Lee Chang-dong, ein bekannter Autorenfil­mer. In seinem Wettbewerb­sbeitrag „Burning“erzählt er die Geschichte eines jungen Mannes (Yoo Ah-in), der mit absoluter Sicherheit weiß, dass ein gleichaltr­iger Bekannter (der ehemalige „The Walking Dead“-Star Steven Yeun) ein Frauenseri­enmörder ist. Da er dies aber nie und nimmer beweisen kann, nimmt er das Gesetz in die eigene Hand, tötet den Massenmörd­er und rächt nebenbei den Mord an seiner Freundin. Ein herausrage­nder Film, wahrschein­lich aber zu sperrig, zu beiläufig für eine Auszeichnu­ng. Beide Filme verbindet, dass sie vom Turbokapit­alismus der Gegenwart erzählen und von dessen Folgen in den jeweiligen Ländern.

Darum geht es auch bei „The Shoplifter­s“vom Japaner Hirokazu Kore-eda: Gestrandet­e der Gesellscha­ft, die dem hohen sozialen Druck der japanische­n Gesellscha­ft nicht genügen, bilden ein Wahlverwan­dtschaft-Familie: Zwei junge Frauen, verwahrlos­te Kinder, die vor ihren prügelnden Eltern fliehen, ein Kleinkrimi­neller und eine alte Frau, die nicht alleine sterben will. Koreeda inszeniert im Einzelnen großartig, besonders die Kinder, und formt im Ganzen das Bild einer versagende­n Gesellscha­ft. Als Zuschauer ahnt man, welches Unheil Normierung­szwang und technokrat­ische Institutio­nen anrichten.

„Leto“als Favorit gehandelt

Andere Wettbewerb­sbeiträge erzählen Geschichte­n aus der Vergangenh­eit. Der wohl beste unter ihnen stammt vom Russen Kirill Serebrenik­ov, der bereits in Stuttgart und Hamburg Opern inszeniert­e, und als Putin-Gegner derzeit unter Hausarrest gestellt ist. Sein Film „Leto“über den jugendlich­en Aufbruch im Leningrad der frühen 1980er-Jahre, ist ganz großes Kino und ist einer der Favoriten in den Besucher-Umfragen über die besten Filme.

Daneben seien der Chinese Jia Zhang-ke und der Franzose Stephane Brizé erwähnt: Deren Film „En Guerre“ erzählt nüchtern und halbdokume­ntarisch von einer Handvoll Gewerkscha­ftsführer, die einen Streik von über 1100 Fabrikarbe­itern organisier­en. Der Titel bedeutet übersetzt „Im Krieg“, aber es schwingt darin auch das englische Wort „Anger“mit, also Wut.

Das gibt die Richtung vor: Das Intensität­slevel in diesem Film liegt permanent bei 120 Prozent. Es wird geschrien, geprügelt und geflucht. Charismati­sches wie moralische­s Zentrum ist dabei der von Vincent Lindon verkörpert­e kommunisti­sche Arbeiterfü­hrer Eric. Ihn als Einzigen lernt man näher kennen. Man sieht die Arbeiter permanent beim Demonstrie­ren und Verhandeln, Privates und Psychologi­sches fehlt. Arbeitskam­pf ist ein mühevoller, ein quälender Prozess, und in diesem Fall auch für den Zuschauer quälend. Denn als der Streik nach Monaten scheitert, greift Eric zum drastischs­ten aller möglichen Mittel: Er zündet sich selbst an.

Mit 20 Minuten anhaltende­m Applaus belohnte das Premierenp­ublikum diesen autoaggres­siven Schlussakk­ord in einem inhaltlich deprimiere­nden, formal sehr einseitige­n Film. Doch er scheint zumindest in Frankreich den Nerv der Zeit zu treffen, und gilt schon deshalb zum erweiterte­n Kreis der Palmen-Favoriten.

Das inhaltlich­e Leitmotiv vieler Filme war in diesem Jahr die Freundscha­ft: Man sah viele Menschen, die sich großzügig und human verhalten. Auffallend gut war die Musikauswa­hl vieler Filme.

Ein herausrage­nder deutscher Film lief in der Sektion „Un Certain Regard“: Ulrich Köhlers „In my room“. Im Mittelpunk­t dieses virtuosen und wohl überrasche­ndsten Films im diesjährig­en Cannes-Jahrgang steht Armin (Hans Löw), ein Taugenicht­s. Der fährt zu seiner Familie in die Provinz, weil seine Großmutter im Sterben liegt. Als er am nächsten Morgen aufwacht, sind alle anderen Menschen verschwund­en.

Nun beginnt eine Robinsonad­e in einem postapokal­yptischen Deutschlan­d. Essen und Benzin sind genug da, für Strom sorgt der Generator. Was also tun? Zum Meer fahren? Oder im Louvre mal in aller Ruhe die Bilder angucken? Köhler zeigt: Allein sein kann für eine Weile gut sein, aber dann fehlen die Mitmensche­n. Glückliche­rweise trifft Armin auf Kirsi (Elena Radonicich), eine Frau, die auch noch gut aussieht und praktische Fähigkeite­n hat. Köhler stellt in seiner wunderbar philosophi­schen Parabel die Frage: Wird man auch nach dem Weltunterg­ang wieder eine Kleinfamil­ie gründen und die Idylle der Mühle am rauschende­n Bach genießen?

Doch für Kirsi sind Freiheit und Aufbruch attraktive­r. Am Ende fährt sie mit einem Turbolaste­r in den Sonnenunte­rgang und erinnert an Charlize Therons „Furiosa“im letzten „Mad Max“. Er dagegen behält Gewehr und Pferd, damit aber auch die Symbole vergangene­r Männlichke­it.

 ?? FOTO: FESTIVAL DE CANNES ?? Hae-mi (Jeon Jong-seo) spielt in dem Favoritenf­ilm „Burning“eine junge Frau, die zwischen die Fronten gerät.
FOTO: FESTIVAL DE CANNES Hae-mi (Jeon Jong-seo) spielt in dem Favoritenf­ilm „Burning“eine junge Frau, die zwischen die Fronten gerät.

Newspapers in German

Newspapers from Germany