Und wieder macht die EU Sorgen
Die Medizintechnikbranche ist von neuer Verordnung verunsichert.
● TUTTLINGEN - Die Tuttlinger Medizintechnikbranche ächzt noch unter der EU-Medizinprodukteverordnung, da plant die Kommission der Europäischen Union schon die nächste Verordnung. Dabei geht es um die Bewertung des Zusatznutzens neuer Medizinprodukte und Arzneimittel auf EU-Ebene. Die Vertreter mehrerer Tuttlinger Medizintechnikunternehmen haben sich am Montag dazu mit dem EU-Kommissar für Gesundheit, Vytenis Andriukaitis, bei Aesculap, Tuttlingens größtem Medizintechnikunternehmen, ausgetauscht.
Konkret geht es um Health Technology Assessment, kurz HTA. Dabei soll ab 2020 ein unabhängiges Gremium überprüfen, was neue Medizinprodukte, zum Beispiel ein neues Wirbelsäulenimplantat, besser macht als ihre Vorgänger.
Warum, erklärt EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis so: „Es reicht nicht, dass ein Unternehmen sagt, dass ein Produkt besser ist, wir brauchen verlässliche Studien dazu, wo der Zusatznutzen liegt. Also inwiefern es effektiver und innovativer ist und in kürzerer Zeit bessere Ergebnisse liefern kann.“Nur so könnten den Patienten die besten Therapien vermittelt werden.
Nationales Vorbild
Bislang gibt es solche Bewertungen nur auf nationaler Ebene, auch in Deutschland. Auf deren Basis handeln die Krankenkassen zum Beispiel den Preis für ein neues Arzneimittel mit dem Hersteller aus. Das Argument der EU: Einigt man sich gleich EU-weit auf ein zentrales Verfahren, könnten nationale Bewertungen wegfallen. Damit gebe es auch keinen Streit über national unterschiedliche Verfahren. Was das nun aber genau für die Hersteller bedeutet, ist den Tuttlingern noch nicht ganz klar. Und das sorgt für Verunsicherung.
„Es ist ein neues Thema“, formuliert Joachim Schulz, Vorstandsvorsitzender von Aesculap, es vorsichtig. Man werde noch sehen, was dahintersteckt. Dazu habe der Dialog mit dem Kommissar gedient. Schulz weiß aber auch: Wenn der europäische Markt gegen große Konkurrenten wie die USA oder China bestehen will, muss er sich einheitlich präsentieren. „Wir müssen die Unterschiede in den Ländern wegbekommen, sonst werden wir verlieren.“
Noch gibt es Zeit für Detailfragen: Die neue Verordnung soll frühestens 2020 in Kraft treten. Und auch dann soll es noch eine Übergangsphase von drei Jahren geben.
Medizinprodukteverordnung: Umsetzung stockt
Drängender ist da die Umsetzung der Medizinprodukteverordnung der EU. Der Zeitpunkt für das Gespräch mit dem EU-Kommissar war gut gewählt: Vor ziemlich genau einem Jahr ist sie in Kraft getreten. Nach jahrelanger Diskussion hatte die Europäische Union damit den Zulassungsprozess für Medizinprodukte verschärft und EU-weit geregelt. Skandale wie die um minderwertige Brustimplantate in Frankreich vor einigen Jahren sollen damit nicht wieder vorkommen.
Von Seiten der Tuttlinger Hersteller ist der Tenor allerdings auch ein Jahr danach noch ähnlich kritisch wie zuvor. Viel Bürokratie, viel Papierkram, viel Unsicherheit. Noch gilt zwar eine Übergangsfrist, erst 2020 wird die Verordnung scharf. Bis dahin müssen die sogenannten „benannten Stellen“wie der TÜV, die die Umsetzung der Verordnung überprüfen, eine neue Zulassung von der EU bekommen. Und sie müssen alle neuen und alten Produkte neu überprüft haben.
Ob das zeitlich möglich ist, bezweifelt Martin Leonhard, Bereichsleiter Technologiemanagement beim Tuttlinger Endoskopespezialisten Karl Storz. Vor allem, weil die Zahl der benannten Stellen aufgrund der hohen Anforderungen abnimmt. Von ehemals 90 seien EU-weit noch 60 übrig, so Leonhard. „Viele Unternehmen haben Angst, dass sie am Ende ohne Prüfstelle dastehen.“Im Extremfall kann es sein, dass Unternehmen bestimmte Produkte vom Markt nehmen müssen.
Kommissar Andriukaitis schlug zu dieser Problematik ein Treffen mit Branchenverbänden in Brüssel vor. Sein Anliegen machte er aber auch klar: „Es geht vorrangig um Menschen und Patientensicherheit und nicht um Märkte.“