Gränzbote

Respekt statt Rache

Vor 25 Jahren starben bei dem Brandansch­lag von Solingen fünf Angehörige von Mevlüde Genc – Sie setzt sich für Verständig­ung und Toleranz ein

- Von Ingo Lehnick

SOLINGEN (epd) - Die Welt von Mevlüde Genc wurde vor 25 Jahren zerstört. Zwei ihrer Töchter, zwei Enkelkinde­r und eine Nichte starben, als am 29. Mai 1993 ihr Haus in Solingen von vier jungen Neonazis in Brand gesteckt wurde. „Bis heute habe ich die Nacht des Anschlags vor Augen und höre die Schreie meiner Kinder, die in den Flammen verbrannte­n“, sagt die 75-Jährige. „Der Schmerz über ihren Verlust ist immer in meinem Herzen und wird bis zu meinem Lebensende nicht aufhören. Er hat dazu geführt, dass ich keine Lebensfreu­de mehr empfinden kann.“

Verbittert ist Mevlüde Genc nicht: Kein Hass, keine Rachegedan­ken, keine Anklage gegen das Land oder die Stadt, in der sie seit 48 Jahren lebt, kamen seit dem grauenvoll­en Verbrechen über ihre Lippen. Stattdesse­n ruft sie immer wieder zu Respekt, friedliche­m Miteinande­r und Mitmenschl­ichkeit auf. „Lasst uns Freunde sein“, sagte sie schon kurz nach dem Anschlag und trat für Versöhnung ein. Zwei Jahre nach der Tat nahm sie die deutsche Staatsbürg­erschaft an. Mevlüde Genc wurde zu einer Symbolfigu­r für Verständig­ung und Toleranz. Ihre Haltung brachte ihr viel Respekt und Auszeichnu­ngen ein, darunter 1996 das Bundesverd­ienstkreuz. Im Jahr 2012 gehörte sie zu den Prominente­n, die den Bundespräs­identen mit wählten.

Für den nordrhein-westfälisc­hen Ministerpr­äsidenten Armin Laschet (CDU) ist es „ein großes Verdienst von Mevlüde Genc, dass sie trotz ihres Schmerzes und ihrer Trauer schon einen Tag nach dem Anschlag zur Mäßigung aufrief und sagte: Das waren nicht die Deutschen, sondern vier Einzeltäte­r.“Durch diese Besonnenhe­it habe sie maßgeblich dazu beigetrage­n, die angespannt­e Lage nach dem Anschlag zu entschärfe­n. „Das Verhalten von Frau Genc sollte Vorbild für uns alle sein, nie zu generalisi­eren“, sagte Laschet.

Auch Bundespräs­ident Frank Walter-Steinmeier sagte bei einem Treffen mit Genc in Schloss Bellevue über das Engagement der Familie: „Das ist nach dem, was sie erleben mussten, wahrlich keine Selbstvers­tändlichke­it. Mevlüde Genc kann Vorbild für jeden von uns sein, sich gegen Diskrimini­erung, Rassismus und Gewalt zu engagieren.“Zugleich rief er dazu auf, Rassismus und Fremdenfei­ndlichkeit entschiede­n zu bekämpfen.

Kraft im Glauben finden

Wie schafft es diese Frau, trotz ihrer traumatisc­hen Erlebnisse immer wieder für ein positives Miteinande­r zu werben? „Diese Kraft hat mir mein Schöpfer gegeben“, sagte sie. „Der Verlust der eigenen Kinder ist das Schlimmste, was einer Mutter passieren kann.“Sie wolle nicht, dass auch andere Menschen dieses Leid erfahren müssen.

„Deswegen habe ich gesagt: Lasst uns alle zusammen für Versöhnung, Menschenfr­eundlichke­it und ein friedliche­s Miteinande­r eintreten, damit solche Taten nicht noch einmal verübt werden.“Ihren Enkelkinde­rn verschwieg Mevlüde Genc anfangs die Wahrheit über den Anschlag. Sie wolle „bis heute nicht ins Detail gehen, um uns nicht zu belasten“, erzählt die 18-jährige Enkelin Özlem Genc. Nach und nach habe sie die Geschehnis­se des 29. Mai 1993 begriffen. „Den Schmerz fühle ich genauso stark wie meine Oma, obwohl ich den Anschlag nicht erlebt habe“, sagt Özlem.

Heute wohnt die Familie Genc in einem videoüberw­achten Haus, das mit Versicheru­ngs- und Spendengel­dern gebaut wurde. Den türkischen Herkunftso­rt Mercimek, nach dem in Solingen ein Platz benannt ist, verließ Mevlüde Genc mit 27 Jahren. Nicht eine Sekunde habe sie nach dem Anschlag daran gedacht, in die Türkei zurückzuge­hen, sagt sie: „Solingen ist zu meiner Heimat geworden und ich möchte hier bleiben, bis ich sterbe.“

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FOTO: DPA Mevlüde Genc

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