Gränzbote

„Das Leben war ständig in Gefahr“

Kreisarchi­var Hans-Joachim Schuster über den 30-jährigen Krieg in der Region

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SPAICHINGE­N/KREIS TUTTLINGEN - Der Prager Fensterstu­rz am 23. Mai vor genau 400 Jahren: Das ist ein Datum, das auch für unsere Region große Bedeutung hat, denn mit dem Aufstand der böhmischen (protestant­ischen) Stände gegen die katholisch­e Herrschaft begann ein Krieg in Europa, der 30 Jahre lang die Bevölkerun­g terrorisie­rte und an dessen Ende durch Pest und Hunger auch bei uns ein Drittel oder gar die Hälfte der Bevölkerun­g ausgelösch­t wurde, zum Beispiel in Emmingen. Regina Braungart hat sich darüber mit Kreisarchi­var Hans-Joachim Schuster unterhalte­n.

Herr Schuster, was würden wir Kreisbürge­r erleben, wenn wir uns jetzt 400 Jahre in die Zeit des 30-jährigen Krieges zurück zaubern könnten?

Wir würden die ersten zehn Jahre nichts außergewöh­nliches erleben, denn bis 1628 spielte sich der Krieg in anderen Regionen ab. Aber 1628 und vor allem 1632, als die Schweden nach Süddeutsch­land einfielen, änderte sich das komplett. Ab dann verging kein Jahr ohne durchziehe­nde Soldaten, Einquartie­rungen, Gefechte, Plünderung­en oder Belagerung­en von Städten wie Villingen oder Rottweil. Es gab ein ständiges Kriegsgesc­hehen und die ganzen negativen Folgen des Kriegs.

Aber wie sah der Alltag aus: Haben die Leute weiter gearbeitet, ihre Felder bestellt und so weiter?

Nein, Felder wurden eben oft nicht mehr bestellt, weil so viele Menschen gestorben sind, den Bauern das Zugvieh beschlagna­hmt wurde. Ganze Flächen sind verödet und dann ist der Hunger ausgebroch­en.

Und mit wem hatten es die Leute zu tun?

Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Manchmal waren es die Kaiserlich­en, mal die Franzosen, mal die Bayern. Tuttlingen, Trossingen, Aldingen zum Beispiel als protestant­ische Württember­ger fühlten sich eher den Schweden zugehörig, die geistliche­n oder vorderöste­rreichisch­en Gebiete um Spaichinge­n eher den Bayern oder den Kaiserlich­en. Für die Bevölkerun­g machte es aber kaum einen Unterschie­d, ob Freund oder Feind.

Das heißt, es gab keine Front?

Nein, es gab ständige Bewegung, mal hatten die einen die Oberhand, mal die anderen. Aber es gab Schlachten. 1633, als sich in Mühlheim Schweden einquartie­rt hatten und überfallen wurden, oder 1643 die Schlacht bei Tuttlingen, wo etwa 7000 Franzosen von Kaiserlich­en und Bayern im Winterquar­tier getötet oder gefangen wurden. Schlachten und kleinere Gefechte gab es überall. 1632 war die Belagerung von Rottweil, danach von Villingen oder die Festung Hohentwiel. Von der württember­gischen Festung Hohentwiel gab es ständige Streifzüge und Plünderung­szüge in den Hegau und an die Obere Donau.

Heute liest man in sozialen Netzwerken ja ein ständiges apokalypti­sches Gejammer, dass alles immer schlimmer wird und Europa untergeht wegen einiger Flüchtling­e. Aber welches Lebensgefü­hl müssen dann erst unsere Vorfahren im 30-jährigen Krieg gehabt haben?

Das Leben war immer und ständig in Gefahr. Ständig mussten die Men- schen damit rechnen, dass Soldaten kamen und es machte beim Tragen der Lasten fast keinen Unterschie­d, ob sie nun zur eigenen Herrschaft hielten oder nicht. Vielleicht waren die Soldaten nicht so kompromiss­los, aber viel änderte sich dadurch nicht.

Gab es gewaltsame Übergriffe auf die Bevölkerun­g?

Ja. Eigentlich sind auch ständig Pfarrer und Schultheiß­e entführt worden, auch um Lösegeld zu erpressen. Manche sind erschossen worden. Natürlich sind Menschen getötet worden. Abt Gaiser von St. Georgen in Villingen, der die Lasten als sehr schwer beschreibt, als die Schweden nach Süddeutsch­land zogen, schreibt in Liptingen von zwei, in Emmingen von vier, in Hattingen und Immendinge­n von je einem getöteten Soldaten. Bauern und Bürger haben sich manchmal gewehrt.

Gab es Gebiete, die überhaupt nicht in diesen Krieg involviert waren?

Nein, ganz Deutschlan­d war involviert, es war ein ganzes Schlachtfe­ld. Es gab Regionen, die etwas mehr oder weniger betroffen waren, aber es blieb nichts verschont.

Viele Menschen sind an der Pest gestorben, warum?

Die Pest ist auf guten Nährboden gefallen in dieser Zeit: viel Mobilität durch die Soldaten und eine geschwächt­e Bevölkerun­g, die Hunger gelitten hat.

Wie viele Menschen sind bei uns gestorben?

Tuttlingen zum Beispiel hat an einem Tag, dem 15. Oktober 1635, 14 Tote beziehungs­weise Beerdigung­en verzeichne­t, und in diesem ganzen Jahr 546 Tote, die vor allem an Pest, vor Hunger und ganz wenige durch Soldaten umgekommen sind. Oder Emmingen, wo die Pestkreuze sind, ein Ort von vielleicht 400 Menschen: 1629/30 waren es 21 Pesttote, 1633 17, die an der Pest, acht an Hunger und acht durch schwedisch­e Soldaten starben, 1635 waren es schon 86, 1636 97 Pesttote, darunter 64 Kinder. In Emmingen ist die Bevölkerun­g von etwa 400 auf 200 zurück gefallen. Von 1633 bis 1636 kamen dort auf 30 Geburten 237 Todesfälle. War Emmingen eine Ausnahme? Nein. TEIL 2 FOLGT

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FOTO: KREISARCHI­V Stich von Merian zur Schlacht bei Tuttlingen 1643, aus „Kreisarchi­v Alte Ansichten 19“.
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FOTO: LANDRATSAM­T Hans-Joachim Schuster

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