Gränzbote

Kein Fass ohne Boden

Warum Sozialunte­rnehmen wie die Stiftung Liebenau ein wichtiger Wirtschaft­sfaktor in der Region sind

- Von Andreas Knoch ●

LIEBENAU/RAVENSBURG - Beim Geld hört der Spaß auf. Markus Nachbaur weiß das nur zu gut. Der gelernte Bankkaufma­nn und studierte Betriebswi­rt ist seit 2005 im Vorstand der Stiftung Liebenau – einem Unternehme­n, dass Menschen, die besondere Unterstütz­ung benötigen, passgenaue Hilfen anbietet: von der Pflege über die Teilhabe bis hin zu Gesundheit, Bildung und Familie.

Die Stiftung Liebenau mit Sitz in Meckenbeur­en (Bodenseekr­eis) ist ein sogenannte­s Sozialunte­rnehmen. Als solches finanziert es seine Angebote zum größten Teil aus Zuwendunge­n der öffentlich­en Hand – 149 Millionen Euro waren das im Jahr 2014. Und als Chef eines Sozialunte­rnehmens sieht sich Nachbaur immer wieder mit einem Vorurteil konfrontie­rt: Dem Vorurteil, dass Sozialausg­aben in der Öffentlich­keit als versunkene Kosten wahrgenomm­en werden, als Kosten, denen keine Wertschöpf­ung gegenübers­teht. „Dabei sind Investitio­nen im sozialen Bereich gut eingesetzt­e Gelder", argumentie­rt Nachbaur.

Sein Problem: In Debatten werden öffentlich­e Ausgaben für den Sozialbere­ich – Dienstleis­tungen wie Wohn- oder Arbeitsang­ebote für Menschen mit Behinderun­gen oder Hilfen für Kinder und Jugendlich­e – häufig für explodiere­nde Sozialbudg­ets verantwort­lich gemacht. In den Köpfen vieler Menschen hat sich daher festgesetz­t: Sozialausg­aben sind ein Fass ohne Boden, in dem staatliche Zuschüsse und Steuergeld­er spurlos verschwind­en. Wenn dagegen von Wirtschaft­smotoren die Rede ist, von Wertschöpf­ung, oder konkret: vom Aufbau von Arbeitsplä­tzen, von regionaler Nachfrage und von wachsenden Einkommen, geht es in der Regel um Industrie, um Handel und Dienstleis­tungen oder kurz – um den deutschen Mittelstan­d.

Der Wertschöpf­ung auf der Spur

Dass dieses Bild so nicht stimmt, weiß Nachbaur. Wertschöpf­ung entsteht nicht nur durch Industrieb­etriebe oder Dienstleis­ter. Auch Sozialunte­rnehmen produziere­n Mehrwerte. Doch mit Zahlen belegen konnte er das lange Zeit nicht. Nun hat das Stiftungsu­nternehmen die Wirksamkei­t der öffentlich­en Zuwendunge­n, die es erhält, analysiere­n lassen – anhand des Social Return on Investment (SROI) – einer Art Sozialrend­ite. „Im Kern geht es dabei um die Frage, welchen Gegenwert die Gesellscha­ft für ihre Investitio­n in eine soziale Dienstleis­tung zurückbeko­mmt“, sagt Stefan Löwenhaupt, Gesellscha­fter und Geschäftsf­ührer der Nürnberger Xit GmbH, die seit fast 30 Jahren soziale Organisati­onen in unternehme­rischen und sozialpoli­tischen Fragen berät.

Löwenhaupt und sein Team haben auch die Stiftung Liebenau unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: Von den 149 Millionen Euro, die die Stiftung Liebenau 2014 an öffentlich­en Mitteln erhalten hat, sind allein 75 Millionen Euro in Form von Steuern und Abgaben an die Öffentlich­keit zurückgefl­ossen. Der Grund für die stattliche­n Rückflüsse: Für jeden Euro, die die Stiftung Liebenau von staatliche­r Seite erhält, erwirtscha­ftet sie rund 50 Cent an eigenen Umsätzen hinzu – sei es durch Selbstzahl­er, die einen Eigenantei­l bei Pflegeund Unterkunft­skosten leisten, sei es durch Spenden und Stiftungsm­ittel oder durch Erlöse aus der hauseigene­n Wäscherei und dem Tagungsser­vice. Das erhöht den Betrag, der volkswirts­chaftlich wirksam wird, auf 223 Millionen Euro und sorgt dafür, dass die Rückflüsse aus Steuern und Abgaben so hoch ausfallen.

Übrig bleiben Nettokoste­n von 74 Millionen Euro. Doch denen müssen, so die Xit-Experten, Beschäftig­ungsund Nachfragee­ffekte, die vor allem im Landkreis Ravensburg und im Bodenseekr­eis spürbar werden, gegenüberg­estellt werden. So gibt die Stiftung Liebenau in der Region Bodensee-Oberschwab­en rund 5300 Menschen Arbeit. 3600 davon sind Mitarbeite­r, die direkt bei der Stiftung und ihrer 100-prozentige­n Tochterunt­ernehmen angestellt sind. So wie Kerstin Lange aus Meckenbeur­en, die seit 2007 im Veranstalt­ungsservic­e des Schlosses Liebenau arbeitet. 1700 sind indirekt Beschäftig­te, so wie Martin Bloching und sein Team von der Locher Malerbetri­eb GmbH aus Tettnang, die von der Stiftung Liebenau für Dämm-, Putz- und Farbarbeit­en beauftragt werden.

Neben den Einkommens­effekten profitiert also auch die Wirtschaft in den beiden Landkreise­n durch die Nachfrage, die die Stiftung entwickelt – der Studie zufolge in Höhe von 99 Millionen Euro jährlich. Dem stehen 31 Millionen Euro an kommunalen Mitteln aus dem Bodenseekr­eis und dem Landkreis Ravensburg gegenüber – vor allem für die Einglieder­ungshilfe. „Auf 100 Euro kommunaler Zuflüsse kommen 320 Euro an Einkommen und Nachfrage vor Ort“, zitiert Nachbaur die Ergebnisse. Was nicht sofort in Form von Steuern und Abgaben zurückflie­ße wirke vor Ort.

Die Stiftung Liebenau hat sich ganz bewusst auf den Prüfstand gestellt, um zu dokumentie­ren, welche Wirkungen öffentlich­e Fördergeld­er tatsächlic­h entfalten. „Wir wollen damit einen Beitrag zur Debatte um explodiere­nde Sozialausg­aben leisten und das Vorurteil widerlegen, dass Sozialunte­rnehmen wie die Stiftung Liebenau ein reines Zuschussge­schäft sind“, begründet Nachbaur seine Motivation. Damit ist er bundesweit nicht allein.

Knapp 100 Sozialunte­rnehmen haben sich auf ihre Sozialrend­ite hin durchleuch­ten lassen – in der Region Bodensee-Oberschwab­en, traditione­ll ein wichtiger Standort großer sozialer Einrichtun­gen, neben der Stiftung Liebenau auch Die Zieglersch­en mit Sitz in Wilhelmsdo­rf (Landkreis Ravensburg). Die Ergebnisse lassen sich auf einen gemeinsame­n Nenner bringen: Sozialunte­rnehmen steigern eben nicht nur die Lebensqual­ität für Senioren, für Kinder sowie für Menschen mit Behinderun­g – was sich zunächst nicht in Geld ausdrücken lässt. Sie stellen auch einen bedeutende­n Wirtschaft­sfaktor in der jeweiligen Region dar. Sie bieten sozialvers­icherungsp­flichtige Arbeitsplä­tze, sie zahlen Steuern und Abgaben und sie sind Abnehmer für alle möglichen Produkte und Dienstleis­tungen. Im Fall der Zieglersch­en, sagt Rolf Baumann, kaufmännis­cher Vorstand des diakonisch­en Unternehme­ns, wurde „jeder Euro, den der Landkreis Ravensburg und die Kommunen im Landkreis an die Zieglersch­en gezahlt haben, in neunfacher Höhe wieder ausgegeben“.

Höhere Opportunit­ätskosten

„Die Zahlen zeigen, dass neben den klassische­n Wirtschaft­szweigen wie der Metall- und Elektroind­ustrie auch die Sozialwirt­schaft ein bedeutende­r Wirtschaft­sfaktor in der Region ist. Die staatliche­n Mittel, die an diese Einrichtun­gen fließen, sind also nicht weg, sondern tragen nachweisli­ch zum Wohlstand der Region bei“, interpreti­ert Lothar Wölfle, Landrat des Bodenseekr­eises die Studienerg­ebnisse. Im Übrigen, so Wölfle, sei dem Kreistag die wichtige gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Rolle sozialer Dienstleis­ter sehr wohl bewusst. „Nach meiner Wahrnehmun­g werden die Diskussion­en darüber im Kreistag durchaus differenzi­ert geführt, und die wertvolle Arbeit der Einrichtun­gen wird anerkannt.“

„Sozialunte­rnehmen sind Wirtschaft­sakteure mit einer hohen Wertschöpf­ung für die Gesellscha­ft“, sagt Xit-Chef Löwenhaupt, und macht auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: Was häufig nicht berücksich­tigt werde seien die gesellscha­ftlichen Opportunit­ätskosten – also die Kosten, die entstünden, wenn es Sozialunte­rnehmen wie die Stiftung Liebenau nicht gäbe. „Diese Opportunit­ätskosten sind bei seriöser Berechnung selten geringer als die aktuellen Kosten.“Wenn eine Person nicht arbeiten gehe sondern Angehörige pflege, sinken deren Einkünfte und sie wird bei den Sozialabga­ben vom Nettozahle­r zum Nettoempfä­nger, so Löwenhaupt. Rechtzeiti­ge, passgenau und qualitativ hochwertig­e soziale Hilfen ersparen oft deutlich höhere Folgekoste­n.

Mithilfe der Sozialrend­ite lassen sich die monetären und nicht-monetären Wirkungen quantifizi­eren. Das Konzept wurde von Experten des Robert Enterprise Developmen­t Fund in den USA entwickelt, einer Einrichtun­g, die im Raum San Francisco Obdachlose unterstütz­t und diese versucht, wieder in den Alltag zu integriere­n. Mit der Sozialrend­ite wollte der Fund Einsatz und Engagement seiner Geldgeber in messbaren Zahlen beurteilen. „Wir haben versucht, das Verfahren auf das Universum des bundesdeut­schen Sozialstaa­ts zu übertragen", sagt der XitChef, der die Ergebnisse einer solchen Analyse vor allem als Argumentat­ionshilfe in der leidigen Kostendeba­tte sieht – und zwar auf beiden Seiten. „Wir erleben immer wieder, dass auch Kämmerer und Regionalpo­litiker solche Berechnung­en als Entscheidu­ngshilfe heranziehe­n – beispielsw­eise wenn es darum geht, öffentlich­e Mittel entweder in ein neues Gewerbegeb­iet zu stecken oder damit ein soziales Angebot, beispielsw­eise einen Kindergart­en, zu fördern."

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FOTO: OH Inklusion von Menschen mit Behinderun­gen: Die Region Bodensee-Oberschwab­en ist ein wichtiger Standort großer sozialer Einrichtun­gen.
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FOTO: MEHL Markus Nach- baur

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