Heile Welt mit tiefen Abgründen
Giacomo Puccinis frühe Oper „Edgar“bei den Festspielen St. Gallen
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ST. GALLEN - Puccinis Oper „Edgar“ist eine echte Rarität. Man muss es schon mutig nennen, dieses Werk auf den Spielplan eines Open-Air-Festivals zu setzen. Die St. Galler Festspiele haben es gewagt. Tobias Kratzer hat das 1889 an der Mailänder Scala aus der Taufe gehobene Frühwerk auf dem Klosterhof inszeniert. Bis zum 13. Juli steht das von Rainer Sellmeier aufwendig ausgestattete Freiluftspektakel neben Konzerten und einer Tanzproduktion in der Kathedrale auf dem Programm.
Das „Edgar“-Libretto von Ferdinando Fontana erzählt eine zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Flandern spielende Geschichte. Der ziemlich verworrene Plot spiegelt die romantische Sehnsucht des 19. Jahrhunderts nach dem Mittelalter wider. Der Titelheld steht wie Wagners Tannhäuser zwischen zwei Frauen und ist zerrissen zwischen zärtlichen Gefühlen für die sittsame Dorfschöne Fidelia und obsessiver Hinneigung zu einer geheimnisvoll-rassigen Fremden namens Tigrana.
In St. Gallen zeigt das mit viel Liebe zum Detail ausgestaltete Bühnenbild im Hintergrund die Ansicht einer von idyllischer Landschaft umgebenen Stadt in der Art altflämischer Malerei. Auch die pittoreske Szenerie davor mit sattgrüner, von Bäumchen gesäumter Wiese samt Altar in der Mitte und die prächtigen Kostüme der Darsteller sind inspiriert von historischen Gemälden. Über dieser heilen Welt strahlt eine große Sonne.
Als sich Tigrana in Begleitung von riesigen Raben mit Totenschädeln entblößt, krauchen skurrile Schimären wie Ausgeburten von Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“aus dem qualmenden Erdinnern. Die Sonne verwandelt sich in eine dämonisch schimmernde Mondsichel. Die finale Hinrichtung Tigranas deutet Kratzer gesellschaftskritisch zum Lynchmord der Dorfmeute um.
Nicht von ungefähr hat Puccini nach der Uraufführung seine Vertonung der kruden Handlung noch dreimal überarbeitet. Die St. Galler Auffühung ermöglicht einen interessanten Blick in die Werkstatt eines noch unfertigen Meisters auf dem Weg zu sich selbst. Leo Hussain dirigiert die teils noch brav gefertigte, dramaturgisch unausgegorene, teils bereits genial auflodernde Musik mit Gespür für Schönheiten und spektakuläre Steigerungen.
Weitere Vorstellungen: 7., 11. und 13. Juli jeweils um 21 Uhr (Dauer: 1 Stunden 30 Minuten, keine Pause); Galler Festspiele und Tickets: www.stgaller-festspiele.ch