Gränzbote

Gestrandet auf der Insel

Der Kontaktlad­en Die Insel für Drogenabhä­ngige in Ravensburg bleibt erhalten – Warum das die Polizei freut

- Von Stefan Fuchs

RAVENSBURG - Ein kurzes Nicken mit dem Kopf, eine schnelle Handbewegu­ng und schon haben zwei kleine Plastiktüt­chen den Besitzer gewechselt. Im einen: Marihuana, zwei oder drei große Blüten; im Polizeijar­gon: „geringfügi­ge Menge“. Das andere Tütchen ist spannender: weißes, kristallin­es Pulver glänzt darin. Sascha (Name von der Redaktion geändert), einer aus der kleinen Gruppe an der Parkbank, steht gerade mit dem Rücken zur heimlichen Transaktio­n. „Wir nehmen hier keine Drogen, nur Alkohol“, versichert er mit slawischem Akzent und lächelt freundlich.

Dieser kleine Bluff spielt sich am helllichte­n Tag ab, direkt neben einer der meist befahrenen Straßen Ravensburg­s. In dem kleinen Park beim Grünen Turm scheint die Sonne, ein paar Meter neben Sascha und seinen Freunden mit den Plastiktüt­chen liegen zwei junge Frauen mit einer Decke im Grünen. Studentinn­en vielleicht, gut gekleidet mit teurer Sonnenbril­le. Vom Deal nebenan haben sie nichts mitbekomme­n. „Die Süchtigen leben hier mitten unter uns, aber die meisten Menschen sehen sie nicht“, sagt Stefan Weinert.

„Jemand muss helfen“

Der ehemalige Sozialarbe­iter und evangelisc­he Theologe ist einer, der gerne einmal genauer hinschaut. Die Drogenszen­e kennt er aus seiner früheren Arbeit. Aber auch heute im Ruhestand unterstütz­t er immer wieder Drogen- und Alkoholsüc­htige bei der Suche nach Arbeit, Therapien oder Unterkünft­en. „Alles wäre eigentlich sichtbar. Aber entweder wird es bestritten, ignoriert oder einfach vergessen. Jemand muss den Menschen ja helfen, wenn von offizielle­r Seite wenig kommt.“Dabei, sagt er, ist Ravensburg fast schon eine Hochburg für Drogen: „Die Szene hier ist groß und wahnsinnig un- übersichtl­ich. Wir sprechen hier von vielleicht 200 Gestrandet­en.“„Gestrandet“deshalb, weil Ravensburg für Drogensüch­tige aus der ganzen Umgebung Anziehungs­punkt sei. Größere Städte gibt es in der ländlichen Region nicht – und eine große Stadt bedeutet immer auch Anlaufstel­len für Süchtige. Anlaufstel­len wie Die Insel.

Die Kanne auf dem Tresen im Fake-Marmorlook verströmt den Geruch von Filterkaff­ee. Tische und Stühle sehen aus, als hätten sie den größten Teil ihres Daseins in einem Klassenzim­mer verbracht. Hippen Starbucks-Chic findet man im Kontaktlad­en Die Insel nicht, dafür hängen an den Wänden selbstgema­lte Bilder der Kunden. Hier trifft sich die Drogenszen­e Ravensburg­s zum Stammtisch. „Alkohol gibt’s hier aber nicht!“Sebastian F., Student der sozialen Arbeit an der Hochschule Ravensburg-Weingarten, arbeitet auf 450-Euro-Basis in der Insel. Er schenkt nur Ungefährli­ches aus: „Eistee gibt’s umsonst. Kaffee und belegte Seelen kosten ein bisschen was.“Die Preise sind niedrig, die Kundschaft nicht besonders solvent.

Grundbedür­fnisse erfüllen

Die meisten kommen ohnehin nicht wegen des kulinarisc­hen Angebots. „Bei uns kann jeder Spritzen tauschen. Alt und gebraucht gegen neu und hygienisch, das ist das Prinzip.“Außerdem: Kontakte pflegen, ins Gespräch kommen: Der Kontaktlad­en will Grundbedür­fnisse erfüllen. Dazu gehört auch die Möglichkei­t, zu duschen oder Wäsche zu waschen. Der Kontaktlad­en sammelt Spenden, hier gibt es Menschen, die sich kümmern. In Zahlen sieht das so aus, im Jahr 2015 beispielsw­eise: 4090 Beratungsg­espräche, 3503 Injektions­materialie­n ausgetausc­ht, 338 Kleidungss­tücke aus der Kleiderkam­mer ausgegeben.

Wer hier auf der Insel strandet, der braucht manchmal schlicht und einfach Überlebens­hilfe, erzählt Sebastian F. Dafür muss das Angebot niederschw­ellig sein. „Wir haben hier eine akzeptiere­nde Haltung, hier kann auch jemand rein, der drauf ist, solange er sich einigermaß­en unter Kontrolle hat.“

Unter den Kunden seien hauptsächl­ich Opiatsücht­ige, erzählt Sebastian F., aber auch Koks und Amphetamin­e seien verbreitet. „Hier drin hat der Stoff nichts zu suchen, aber wir ahnen natürlich, was die Leute sich vorher verabreich­t haben.“Die Sucht selbst werden die Menschen in der Insel nicht los. Dafür gibt es andere Angebote. Es geht vielmehr darum, eine Brücke zur Gesellscha­ft zu bauen. Hier gibt es immerhin noch Kontakt zu anderen Menschen.

An diesem Tag gibt es nur wenige, die den suchen. Zwei Kunden sitzen am Tisch neben dem Tresen und trinken Kaffee. Mann und Frau, vielleicht ein Paar. Er liest Zeitung, sie sitzt still daneben. Reden wollen sie nicht, warum auch? „Die Geschich- ten ähneln sich alle“, sagt Stefan Weinert. Irgendwo falsch abgebogen im Leben, an einer der vielen Weichen. Und dann gibt’s irgendwann kein Zurück mehr. Weinert weiß, wie schnell es gehen kann: „Das hätte uns alle treffen können, und dann wären wir hier vielleicht auch Stammgast.“

Hier, das ist eigentlich im Herzen Ravensburg­s. Die Insel liegt in einer kleinen Seitengass­e direkt am Marienplat­z. Zentrale Lage und doch fast schon ein Versteck: Der Eingang mit unauffälli­ger Glastür liegt verborgen in einem Erker. Ein Schild mit dem Schriftzug „Die Insel“gibt es nicht. Dafür neben der Tür ein paar kleine Klingelsch­ilder: Mandy, Jasmin und Chantal (Namen geändert, die Red.) wohnen nebenan. Keine Nachnamen. Nicht gerade ein Platz fürs grelle Tageslicht.

„Die Insel ist schon irgendwie ein verborgene­r Ort“, sagt Sebastian F. Er glaubt, dass die meisten Ravensburg­er nichts von ihrer Existenz wissen. „Es ist eine versteckte Ecke, die nicht jeder sieht. Aber wer hier ankommt, der sucht nicht unbedingt die große Öffentlich­keit.“Für die Kunden eine Oase in der Wüste.

Für die Insel selbst war die mangelnde Verankerun­g in der Öffentlich­keit bislang aber auch ein Problem. Die ursprüngli­che Trägergese­llschaft Suchthilfe GmbH wurde abgewickel­t. Wie Weinert sagt, wurde der Kontaktlad­en Ende 2016 nur deshalb nicht geschlosse­n, weil sich die Parteien die Linke und die Grünen, die Polizei sowie andere Akteure und 262 Unterzeich­ner einer Petition „vehement dagegen ausgesproc­hen haben“. Die privaten Träger einigten sich zusammen mit dem Landkreis und der Stadt zunächst darauf, zumindest den eingeschrä­nkten Betrieb an zwei Wochentage­n aufrechtzu­erhalten. Das ging so bis März 2018, im April und Mai war die Insel geschlosse­n.

Mit der Entscheidu­ng des Zentrums für Psychiatri­e Südwürttem­berg, den Kontaktlad­en weiterzufü­hren, läuft der Betrieb jetzt seit einigen Wochen wieder regulär. Eine Erleichter­ung für Uwe Stürmer, Chef der zuständige­n Kripo Friedrichs­hafen: „Wer in den vergangene­n beiden Monaten mit offenen Augen durch Ravensburg gegangen ist, hat die Auswirkung­en der Schließung gesehen. Ohne Hilfe und Anlaufstel­le trifft sich die Szene auf den Straßen und in den Grünanlage­n der Stadt.“

„Ohne Hilfe und Anlaufstel­le trifft sich die Szene auf den Straßen und in den Grünanlage­n.“Uwe Stürmer, Chef der Kripo Friedrichs­hafen

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FOTO: STEFAN FUCHS Beliebter Treffpunkt für legale und weniger legale Aktivitäte­n: die Grünanlage an der Ravensburg­er Schussenst­raße.
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FOTO: FELIX KAESTLE Ein kleines bisschen Heimat: Die Insel.

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