Russland als Gastgeber: weltmeisterlich
Unser Mitarbeiter Heinz Wittmann berichtet von der Fußball-WM und seinen Erlebnissen
VS-SCHWENNINGEN - Für unsere Zeitung schreibt er hauptsächlich über Eishockey und die Schwenninger Wild Wings. Aber die Leidenschaft von SZ-Mitarbeiter Heinz Wittmann gehört auch dem Fußball. Er war bei der Weltmeisterschaft in Russland vor Ort, beschreibt seine Erlebnisse und die Erfahrungen, die er in Moskau und St. Petersburg gemacht hat:
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as Halbfinale sollte es mindestens sein – bei dem Potential der deutschen Mannschaft. Aber eigentlich fast sicher das Finale: Also habe ich im Dezember 2017 bei der Fifa für das Halbfinale und Finale mit deutscher Beteiligung Optionstickets bestellt. Die kostenlose Fan-ID, die bei der WM 2018 jeder Besucher für die eindeutige Identifikation benötigte, gleich dazu. Sie ersetzte das obligatorische und kostenpflichtige Visum für Russland, für das ansonsten 140 Euro fällig geworden wären.
Und wenn ich schon dabei bin, auch noch fix das Achtelfinale in St. Petersburg samt Flug und Hotel gebucht. Klar, bei den Gegnern Mexiko, Schweden und Südkorea, werden „wir“sowieso Gruppenerster. Die Realität kennen wir alle. Während ich also den Flieger in Frankfurt nach St. Petersburg besteige, steht neben der Startbahn noch der Airbus 321 „Fanhansa Mannschaftsflieger“der Nationalmannschaft. Dieser hatte Jogi Löw und seine Mannen vier Tage zuvor nach der 0:2-Pleite gegen Südkorea und dem historischen Vorrunden-Aus wieder nach Hause gebracht. „Da steht er noch der Siegerflieger“, spötteln einige deutsche Fans, die wie ich mit großem Vertrauen in unser Team die Reise gebucht hatten.
Anstatt des erhofften Krachers zwischen der DFB-Auswahl gegen Brasilien bekommen wir nun Schweden gegen die Schweiz zu sehen. Die Geschichte der schwachen Partie, die die Skandinavier 1:0 gewinnen, ist bekannt. Beeindruckender als der Kick ist schon das Stadion in St. Petersburg. Die Arena auf der Krestowski-Insel hat knapp eine Milliarde Euro gekostet und ist wirklich imposant. Neben mir, im Oberrang, weit weg vom eigentlichen Geschehen auf dem grünen Rasen, aber mit herrlicher Übersicht, sitzt, ein Mann aus St. Petersburg, ein Fan des Topklubs Zenit, der in diesem Stadion seine Heimspiele austrägt.
Russen sind freundlich Gastgeber, manchmal zu hilfsbereit
Ganz klar: Das gute Abschneiden der russische Mannschaft und das sensationelle Aus der Deutschen ist ein Thema. Dass ich aus Deutschland komme, kriegt jeder gleich mit. Trotz der Pleite habe ich das deutsche Trikot von der Europameisterschaft 2016 mit der Rückennummer zehn und dem Namenszug Podolski an. „Deutschland keine Stürmer mehr, nix mehr Rummenigge“, sagt mein Sitznachbar in gebrochenem Deutsch. Ich denke nur, in Ordnung, aber die Zeiten, als Kalle Rummenigge noch spielte, sind auch schon länger vorbei. In der Zwischenzeit sind wir 1990 und 2014 zweimal Weltmeister geworden.
Die Stimmung auf den Rängen und rund um die Arena war in St. Petersburg heiter und fröhlich. Ein Riesenfest: Fans der verschiedenen Nationen machten Fotos miteinander, tranken zusammen und hatten Spaß. Hier die Mexikaner mit ihren Sombreros, dort die Brasilianer in ihren leuchtend gelben Trikots. Und ein ganz hervorragender Gastgeber: Die russische Bevölkerung. Die Klischees, die es in Deutschland über Russland gibt, stimmen meiner Meinung nach nicht. Die Russen waren bei der WM sehr gastfreundlich und hilfsbereit.
Am Ende habe ich mir tatsächlich überlegt, wenn ich den Weg nicht wusste, ob ich überhaupt noch fragen soll. Ich habe es mehrfach erlebt, dass viele Russen es nicht dabei belassen, den Weg ausführlich zu schildern. Auch wenn sie keiner Fremdsprache mächtig sind. Deutsch kann in St. Petersburg und Moskau anscheinend fast niemand. Englisch beherrschen viele zwar bruchstückhaft. Aber das reicht längst nicht an das Schulenglisch eines deutschen Realschülers heran. Die Russen wollen den Suchenden unbedingt auch dorthin bringen, wonach er gefragt hat. Das habe ich schon vor zwei Jahren bei der Eishockey-Weltmeisterschaft erlebt, als mich ein Einheimischer aus Moskau bis an mein Hotel führte. Und dieses Jahr ist es wieder so. Allerdings: wenn die „Laien“-Reiseführer selbst doch nicht so ganz genau Bescheid wissen, kann es auch weniger hilfreich sein.
Zum Halbfinale bin ich dann wieder aus Deutschland dieses Mal nach Moskau gereist. Das erste Halbfinale zwischen Frankreich und Belgien in St. Petersburg wollte ich mir auf dem großen Fanfest mit anderen Fußballfreunden aus aller Welt anschauen. Ich war rechtzeitig unterwegs. Nur die Beschilderung „Fifa-Fanfest“war nach dem Verlassen der Metro irgendwann nicht mehr zu sehen. Drei Kolumbianern ging es ähnlich wie mir. Auch sie hatten etwas die Orientierung verloren. Vier ratlose Gesichter. Schnell war ein Moskowiter zur Stelle. Der sprach zwar nur russisch, bedeutete uns aber, ihm zu folgen. Der Einheimische schlug hochmotiviert ein hohes Tempo an.
Nach 20 Minuten kamen den Kolumbianern wohl leichte Zweifel, ob die Richtung stimmte. Eine schien auch konditionelle Probleme zu haben. Still und leise verdrückten sie sich, sodass nur noch ich dem freundlichen Herrn, mit letztem Einsatz meiner Kräfte, folgte. Der Moskowiter brachte mich tatsächlich zum Fanfest, wo das Spiel auf großen Monitoren verfolgt werden konnte. Nur die zig anderen Tausend Besucher, die per Shuttlebus jenen Hügel hinaufgefahren wurden, hatten vielleicht eine etwas bequemere, aber eine weitaus weniger exklusivere Anreise.
Bei Fan-Fest begeistert die Musik mehr als das Spiel
Auf dem Fanfest selbst war die Stimmung prima. Allerdings nur so lange kein Fußball gespielt wurde. Russische Musikgrößen wie Rapper Scroodgee oder Popsängerin Dana Sokolova heizten vor der Übertragung den Besuchern ein. Das Publikum – viele junge Menschen waren offensichtlich in erster Linie wegen der Musik gekommen – tanzten ausgelassen mit. Mit Beginn der Fußballübertragung setzten sich die meisten Besucher. Es ging deutlich ruhiger zu. Allerdings riss das 1:0 von Frankreich gegen Belgien auch niemand wirklich von den Sitzen.
Ganz anders war es am Tag danach, einer von 78011 Fans im Moskauer Luschniki-Stadion zu sein. Ich hatte kurz vor dem Spielbeginn zwischen England und Kroatien doch noch ein Ticket ergattern können. Allerdings wurde mir gesagt, dass sich der Platz im englischen Fanblock befindet. Kein Problem dachte ich, dann sing ich halt mit den Engländern mit. Aber mein DeutschlandTrikot sollte ich dann doch lieber ausziehen, dachte ich zunächst. Die tolle Stimmung vor dem Stadion und das friedliche Miteinander aller Fans ließ mich mein „Poldi“-Trikot anlassen.
Absolut beeindruckend waren die englischen Fangesänge. Und dies nicht nur im Stadion, sondern vor allem in den Stadiongängen. „It's coming home, football is coming home“, schmetterten sie die bekannte Fußballhymne. Die Aufforderung der russischen Ordner, sich im Stadion zu setzen, ignorierten die englischen Anhänger, die erstmals seit 1966, als sie in Wembley Deutschland 4:2 besiegten und Weltmeister wurden, wieder ein WM-Finale vor Augen hatten. Und als Kieran Trippier nach fünf Minuten mit einem herrlichen Freistoß zum 1:0 für England traf, brachen alle Dämme. Ein Engländer entschuldigt sich sogar bei mir, als ich eine Bierdusche abbekam. „Das war mein Neffe, er ist so aufgeregt.“
Ich sage, ich bin auch aufgeregt und das macht doch gar nichts. Auf meine Frage, woher er kommt, sagt er: Brighton. Ich sage, toll, da war mein Sohn schon einmal bei einem Schüleraustausch. Außerdem bin ich Abba-Fan und die gewannen 1974 in Brighton mit „Waterloo“den GrandPrix. Doch nicht die Briten, sondern die Kroaten würden ein Waterloo erleben, meint mein Nebenmann angesichts der Führung.
Die Kroaten brauchen in der Tat eine ganze Weile, um sich von dem Schock des frühen Gegentores zu erholen. Ivan Perisic gelingt nach 68 Minuten der Ausgleich. Es gibt Verlängerung. Die Spannung ist kaum auszuhalten. Jeder rechnet schon mit einem Elfmeterschießen, ehe Mario Manzukic den Ball zum 2:1 für Kroatien im englischen Kasten unterbringt. Die Engländer hoffen zwar noch auf den Ausgleich, jedoch vergeblich.
Die Jungs von der Insel, die mich mit ihren herrlichen Fangesängen tief beeindruckt haben, erweisen sich aber als anständige Verlierer. Die Nacht in Moskau gehört aber den Kroaten. Am nächsten Tag im Flugzeug nach Hause treffe ich einen kroatischen Fan, der in Stuttgart wohnt. Der kann sein Glück kaum fassen. Reden kann er allerdings auch kaum noch. „Wir haben bis morgens um sieben Uhr früh gefeiert.“„Wo?“, frage ich. „In einem Klub. Aber wo der war und wie der hieß, keine Ahnung“, sagt der Fan, der sein Trikot mit der Nummer zehn von Luca Modric wohl bis zum Finale am Sonntag nicht mehr ausgezogen hat.
Sportlich hat es für die Kroaten nicht gereicht. Trotz des 2:4 im Endspiel gegen Frankreich waren sie die Gewinner des Turniers. Russland hat sich als ganz toller Gastgeber präsentierten. Zudem waren die Russen auch sportlich gut dabei. Das Erreichen des Viertelfinales mit der unglücklichen Niederlage nach Elfmeterschießen gegen Kroatien war ein Erfolg. Der Fußball hat in Russland viel bewirkt. Sogar auf dem Roten Platz wurde während der Weltmeisterschaft fröhlich miteinander Fußball gespielt. Wer hätte daran noch vor nicht allzu langer Zeit, als es noch den „Kalten Krieg“gab, gedacht?