„Ich habe Glück gehabt. Ich bin dankbar“
Marvin Thurner ist schwerbehindert, braucht Pflege und ist auf den Rollstuhl angewiesen – Über die Tücken des alltäglichen Reisens
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WEINGARTEN - Ein Freitag im Juni gegen halb neun Uhr morgens: Am Körperbehindertenzentrum Oberschwaben (KBZO) in der Sauterleutestraße begrüßt Marvin Thurner seinen Begleiter. Thurner, 19 Jahre alt, will gegen Mittag in Ulm in einem Café am Münsterplatz einen Bekannten treffen, mit dem er vergangene Woche in Berlin bei einer politischen Tagung war. Danach will er gegen 15 Uhr nach Hause fahren, ins heimische Munderkingen, wo seine Eltern leben.
Für einen „normalen“Menschen ist das eine „normale“Reise, über die man nicht einmal ansatzweise nachdenken muss. Für einen Rollstuhlfahrer wie Marvin Thurner ist sie alles andere. Öffentliche Verkehrsmittel mit dem Rollstuhl zu nutzen, ist für ihn bisweilen schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Sein Elektrorollstuhl, mit dem er sich ohne fremde Hilfe bewegen kann, wiegt 160 Kilogramm. Ohne Rampen oder Hubwagen, die ihm beim Einsteigen helfen, geht nichts. Seine Fahrten mit der Bahn muss er einen Tag vor Reiseantritt anmelden. Der Mobilitätsservice prüft dann, ob und wie die Reise zur gewünschten Uhrzeit möglich ist. Marvin Thurner zur Diskriminierung Behinderter
Das Ergebnis seiner Anfrage für die heutige Reise: Mit seinem Elektrorollstuhl geht das nicht. Der Bahnhof in seiner Heimatstadt Munderkingen verfügt nicht über einen entsprechenden Service, der ihm beim Aussteigen hilft. Eigentlich ist die Reise damit schon beendet, bevor sie angefangen hat. Doch Thurner gibt nicht auf, organisiert sich seinen Schieberollstuhl, in dem man ihn notfalls tragen kann, organisiert sich einen Begleiter.
Bushaltestelle am 14-NothelferKrankenhaus in Weingarten. Es ist kurz von neun Uhr. Außer Thurner möchte auch eine Frau mit Kinderwagen einsteigen. Ein Fahrgast klappt die Rampe auf die Straße. Thurners Rollstuhl füllt den gesamten Platz aus, der für Rollstuhlfahrer vorgesehen ist. Ein zweiter hätte keinen Platz mehr. Die Frau steht mit ihrem Kinderwagen im Mittelgang. Keiner kann mehr durch. Der Busfahrer beobachtet das Ganze im Rückspiegel. In Weingarten seien die Bedingungen sehr gut, sich im Rollstuhl zu bewegen, sagt Thurner. Mit seinem E-Rollstuhl könne er fast alles allein erreichen. Es gibt sogar vier öffentliche Toiletten, die barrierefrei sind.
Marvin Thurner ist von Geburt an behindert. Seine Mutter litt an einer Schwangerschaftsvergiftung, er kam per Notkaiserschnitt drei Monate zu früh auf die Welt. Sauerstoffunterversorgung führte zur Schädigung seines Gehirns. Sein Bewegungszentrum wurde in Mitleidenschaft gezogen, er hat Spastiken, ist ständig auf Hilfe angewiesen, kann sich nicht selbst anziehen, nicht allein auf die Toilette.
Doch im Kopf ist er klar. Er schätzt seine Situation realistisch ein, nimmt sein Schicksal an und macht das, was für ihn möglich ist – auch wenn ande- re erst einmal Nein sagen. In der Öffentlichkeit wird er unverhohlen angestarrt, manchmal kommt er sich vor wie im Zoo. „Alle sagen, sie haben keine Vorurteile. Aber alle haben sie“, sagt er. „Als Behinderter ist man diskriminiert. Die Leute werden erst aufmerksam, wenn sie merken, dass man sich mit mir ganz normal unterhalten kann.“Belastet es ihn, dass in seinem Leben nicht alles möglich ist? Dass er mit Einschränkungen zu kämpfen hat, dass er nicht dieselben Voraussetzungen hat wie „normale“Menschen. „Ich kenne es nicht anders“, sagt er. „Ich sitze im Rollstuhl. Für mich ist das normal. Und ich sehe, dass alles noch schlimmer hätte kommen können. Bei mir ist nur das Bewegungszentrum betroffen. Ich habe Glück gehabt. Ich bin dankbar.“
Um 9.43 Uhr fährt der Zug nach Ulm ein. Die Zugbegleiterin steigt aus und sieht den Rollstuhlfahrer. „Nein, das geht nicht“, sagt sie auf eine doch recht resolute Art. „Das ist ein Ersatzzug. Sie müssen den nächsten nehmen.“„Wir müssen mit“, sagt Thurner. „Wir haben einen Termin.“Das beeindruckt die Dame in der blauen Uniform zunächst wenig. Dann sieht sie die Filmkamera, die Marvin Thurner begleitet, und besinnt sich, klopft beim Lokführer an. Der streckt den Kopf aus dem Fenster, sieht ebenfalls die Kamera und handelt. Er steigt aus und hilft beim Einsteigen. Der Zug ist völlig überfüllt. Marvin Thurner ist im Waggon für die Fahrräder. „Ohne die Filmkamera wäre die Reise jetzt zu Ende gewesen“, sagt er.
Doch auch wenn ihm die Kamera hier geholfen hat: Thurner hat sich nicht so leicht beiseiteschieben lassen. Vielleicht ist das etwas, was ihm seine Eltern mitgegeben haben. „Wir haben immer nach Lösungen gesucht“, sagt Marvins Vater Harald. „Wir haben immer gesagt, das geht schon.“Auch wenn sich mal wieder die Behörden quergelegt haben. Kurz nach seinem 18. Geburtstag läuft die Frist für Marvins Schwerbehindertenausweis ab. Aufgrund von ärztlichen Berichten bewertet das Landratsamt seine Lebenssituation neu und kommt zu dem Schluss, dass er nicht mehr ganz so schwer behindert ist. Die Behörde streicht das „H“für hilfsbedürftig und das „B“für Begleitperson aus seinem Ausweis. „ Das war das erste Mal, dass mir jemand bescheinigt hat, dass es mit meiner Behinderung besser geworden ist“, sagt Thurner und lacht. Als sein Widerspruch abgelehnt wird, nimmt er sich einen Rechtsanwalt und will klagen. Kurz vor der Gerichtsverhandlung lenkt die Behörde ein. Thurner bekommt den 100-prozentigen Status für seine Körperbehinderung.
Thurner darf kein Vermögen aufbauen, weil ihm aufgrund seiner Behinderung Pflege vom Staat zusteht. Maximal 5000 Euro dürfe er auf seinem Konto haben, erzählt er. Wenn es mehr ist, kann ihm die Pflege gestrichen werden. Seit zwei Jahren lebt er im Internat und geht im KBZO zur Schule. Die private Stiftung feiert dieses Jahr ihr 50-jähriges Bestehen und gilt in Sachen Ausbildung und Förderung von Behinderten als Pionier. Aus dem Verein, den drei Elternpaare gegründet hatten, ist eine der größten Einrichtungen für Menschen mit Körperund Mehrfachbehinderungen in Baden-Württemberg und der Bundesrepublik geworden. Sie begleitet behinderte Menschen vom Kindergarten über Schule, Ausbildung und Arbeit bis hin zum Wohnen. 77,90 Euro kostet Marvins Unterbringung im Internat und der Schule pro Tag. 18 Euro müssen seine Eltern für die Beförderung beisteuern.
Ulm, Hauptbahnhof. Es ist Viertel vor elf. Der Zug fährt pünktlich ein. Ein Mitreisender hilft Thurner und seiner Begleitung aus dem Waggon. Vom Mobilitätsservice ist nichts zu sehen. Die Zugbegleiterin sieht zu. Es ist nicht ihre Aufgabe, mit anzupacken. „Ich habe einmal einer Frau den Koffer aufs Gleis gestellt“, sagt sie. „Später hat sie mich beschuldigt, ich hätte ihn beschädigt. Sie hat mich verklagt.“Dann taucht ein Mitarbeiter des Mobilitätsservices mit einem Rollstuhllift auf. Er entschuldigt sich, nicht rechtzeitig da gewesen zu sein. Er hätte erst im letzten Moment erfahren, dass dies ein Ersatzzug ist und er deshalb zunächst den Rollstuhllift habe holen müssen. Der Mann ist freundlich und zuvorkommend, begleitet Thurner zum Ausgang und macht seinen spontanen Wunsch möglich, den Zug nach Munderkingen eine Stunde früher als geplant zu nehmen. Der Ulmer Bahnhof wird gerade umgebaut. Noch müssen Rollstuhlfahrer eine lange Rampe überwinden, um auf die einzelnen Bahnsteige zu kommen. Ende des Jahres soll es Aufzüge geben.
Thurner beginnt im September eine Ausbildung zum Technischen Produktdesigner am KBZO. „Auf dem freien Arbeitsmarkt hätte ich keine Chance“, sagt er. Später will er im ersten Arbeitsmarkt ankommen. „Das ist mein großes Ziel.“Was für andere Menschen schon schwierig sein kann, ist für Behinderte mit einem Handicap, wie Thurner es hat, noch härter: fast so ein Glücksfall wie ein Sechser im Lotto. Die Beschäftigungsquote Schwerbehinderter beträgt 4,69 Prozent, wie die Organisation Aktion Mensch in ihrem Inklusionsbarometer vom November 2017 schreibt. Unternehmen müssen erst ab einer Firmengröße von mehr als 20 Mitarbeitern Menschen mit Behinderung einstellen – oder eine Ausgleichsabgabe zahlen.
„Alle sagen, sie haben keine Vorurteile. Aber alle haben sie.“
Die Eltern sind zuversichtlich
Versuchen muss man es trotzdem, findet Thurner. Bei einem Unternehmen in Ulm bekommt er einen Praktikumsplatz und hat inzwischen die berechtigte Hoffnung, seine Ausbildung im dualen System machen zu können. Ein weitgehend unabhängiges Leben möchte er führen, vielleicht in einer Wohngemeinschaft. Seine Eltern sind zuversichtlich. „Ich mache mir keine Sorgen mehr um Marvin“, sagt seine Mutter Sabine. „Er wird seinen Weg gehen.“
Am KBZO ist er ein Star, hat auf Facebook eine „Fangemeinde“. Viele bewundern ihn für seinen Mut, sich mit seiner Behinderung in der Öffentlichkeit zu zeigen. Er engagiert sich im Jugendgemeinderat, ist Schulsprecher, ist politisch aktiv. Es gibt aber auch die andere Seite. Für sein Engagement zieht er sich auch den Neid jener zu, die nicht diesen Mut haben.
Ulm, Innenstadt. Kopfsteinpflaster. „Das ist Gift für mich“, sagt Thurner. „Mein Rücken muss jede Erschütterung abfangen. Auf Dauer ist das sehr anstrengend und schmerzhaft.“Mit dem Fahrstuhl geht es auf die Dachterrasse eines Cafes am Ulmer Münster. Er trifft sich mit HansPeter Heiland, mit dem er vor zwei Wochen auf einer politischen Tagung in Berlin war. Mit einem gemieteten Transporter sind die beiden unterwegs gewesen.
Zwei Stunden später ist er wieder am Bahnhof. Der Mobilitätsservice begleitet ihn auf Gleis 8. Sie müssen über die Gleise. Es gibt keine andere Möglichkeit. Beim Überqueren verhaken sich die beweglichen Vorderräder in den Schienen. Aber alles geht gut. Mit dem Lift kann Marvin Thurner in den Wagen einsteigen. Der Zug ist völlig überfüllt. Es ist stickig und heiß. Die Klimaanlage funktioniert nicht. Ein kleines Kind schreit seinen Unmut heraus. In Munderkingen hilft wieder ein Mitreisender beim Aussteigen. Das Kamerateam darf hier nicht filmen. Die Bahn hat die Drehgenehmigung verweigert.
Dann ist Marvin Thurner zu Hause angekommen. Seine Eltern begrüßen ihn. Er ist erschöpft, es war ein langer Tag. Warum nimmt er diese Strapazen auf sich? „Ich will aufstehen“, sagt er. „Ich will zeigen, dass es uns auch noch gibt.“
„Das ist Gift für mich. Mein Rücken muss jede Erschütterung abfangen.“ Marvin Thurner zum Rollstuhlfahren auf Kopfsteinpflaster