Gränzbote

Dreifachmo­rd: Anwalt zeigt Behörden an

Schwere Vorwürfe: Untätigkei­t und Fahrlässig­keit „ursächlich“für Tod dreier Menschen

- Von Lothar Häring

ROTTWEIL/TUTTLINGEN - Hätte nicht nur die Nichte des Täters den Dreifachmo­rd von Villingend­orf verhindern können, sondern auch drei Behörden? Rechtsanwa­lt Wido Fischer lässt daran kaum Zweifel. Er vertritt E. B., die frühere Partnerin von Drazen D., der am 14. September des vergangene­n Jahres den gemeinsame­n Sohn Dario, ihren neuen Freund und dessen Cousine erschossen hat (wir berichtete­n).

In ihren Namen hat Fischer Strafanzei­ge gegen Beamte des Polizeiprä­sidiums Tuttlingen, gegen das Jugendamt Rottweil und gegen das Landratsam­t Tuttlingen gestellt. Das fahrlässig­e Verhalten in allen drei Fällen sei „ursächlich“für den Tod dreier Menschen“, konstatier­t der Anwalt.

Der Fall Polizei

Nach lautstarke­n Morddrohun­gen von Drazen D. am 19. August 2017 auf einem Parkplatz in Singen erstatte die 31-jährige Ex-Freundin Anzeige bei der Polizei in Rottweil, zumal Drazen D. nach vorherigen Übergriffe­n auch gegen das Annäherung­sverbot verstoßen hatte. Die Probleme fingen laut Anwalt Fischer schon damit an, dass ein Praktikant die Anzeige aufgenomme­n habe. Entspreche­nd unsicher wirkte er dann auch als Zeuge vor Gericht.

Fischer kritisiert­e bereits als Nebenkläge­r in seinem Plädoyer heftig, dass die zuständige Oberkommis­sarin dann – entgegen allen Regeln – eine Gefährdera­nsprache nur telefonisc­h an Drazen D. gehalten habe. Bei dieser einzigen Reaktion der Polizei sei es geblieben – trotz der Todesdrohu­ngen und der kriminelle­n Vorgeschic­hte des vorbestraf­ten und psychisch auffällige­n Mannes.

Zweiter Vorwurf: Die offenbar von Drazen D. beschädigt­en Rollläden an der Villingend­orfer Wohnung habe die Polizei als „Hagelschad­en“abgetan, obwohl die fehlenden Teile sorgsam aufgereiht auf dem Fenstersim­s lagen und der Rollladen daneben keinerlei Beschädigu­ngen aufwies. Eine kriminalte­chnische Untersuchu­ng sei unterblieb­en.

Dritter Vorwurf: Die Polizei habe seiner Mandantin zugesagt, in der Wohnstraße regelmäßig Streifenwa­gen vorbeizusc­hicken, betont der Anwalt. Er befragte alle Anwohner, die als Zeugen aussagten. Ergebnis: Keiner hat ein Polizeiaut­o in der Straße gesehen.

Ein Sprecher des Polizeiprä­sidiums Tuttlingen erklärt auf Anfrage, man könne sich zu einem laufenden Ermittlung­sverfahren nicht äußern. Klar sei aber, dass unter der Federführu­ng der Staatsanwa­ltschaft Rottweil unabhängig­e Beamte „aus der Nähe von Stuttgart“mit den Ermittlung­en beauftragt würden.

Der Fall Jugendamt Rottweil

Schon Ende Juni 2017 hat E. B. nach ihrem Umzug nach Villingend­orf, so ihr Anwalt, dringend um einen Termin beim Jugendamt Rottweil gebeten, weil sie Angst hatte und Drazen D. fieberhaft nach ihrer neuen Adresse suche. Zu dem Gespräch mit der Sachbearbe­iterin kam es dann erst am 10. August. Dabei äußerte die junge Frau ihre Angst, Drazen D. könne ihr und dem gemeinsame­n Sohn etwas antun, berictet Fischer.

Er verweist zugleich auf die polizeilic­he Vernehmung der Sachbearbe­iterin, die auch im Prozess verlesen wurde. Demnach, so sagte sie damals, wäre es ihr „ein Lechtes“gewesen, für Mutter und Sohn eine „Schutzwohn­ung“zu besorgen, wenn sich die Polizei bei ihr gemeldet hätte. Dazu sei es nie gekommen, bemängelt Fischer, „obwohl es nach unserer Auffassung bei allen Erkenntnis­sen der Polizei hätten erfolgen müssen“.

Zwar habe die Mitarbeite­rin des Rottweiler Landratsam­ts vor Gericht noch erklärt, „keine akute Gefahr“erkannt zu haben, dagegen sprächen allerdings mehrere Fakten: Nicht nur die Jugendamts­akten hätten auf die Gefährlich­keit von Drazen D. hingewiese­n, sondern auch die Mitteilung­en eines Kripobeamt­en über die jüngsten Vorfälle.

Vor allem aber: Nach den Morddrohun­gen von Drazen D. am 19. August auf dem Parkplatz in Singen habe dessen Ex-Partnerin am 28. August einen verzweifel­ten Hilferuf an das Jugendamt geschickt: „Irgendwie hat er unsere Adresse herausgefu­nden ... Er droht ... Wir sind in Lebensgefa­hr!“Allerspäte­stens da hätte der Sachbearbe­iterin die hohe Gefahr klar sein müssen, betont Fischer. „Ein Ermessensp­ielraum bestand nicht mehr.“Dennoch seien Konsequenz­en ausgeblieb­en.

Nach Überzeugun­g des Anwalts handelt es sich um „eine rechtlich relevante Unterlassu­ng, die schlussend­lich zum Tod von drei Menschen geführt hat“. Der Sozialdeze­rnent des Landkreise­s Rottweil, Bernd Hamann, erklärt auf Anfrage: „Uns liegt keine Anzeige vor. Wir haben uns nichts vorzuwerfe­n.“

Der Fall Sozialamt Tuttligen

Drazen D. hat in seinem Geständnis vor Gericht erklärt, er habe Mitte März bei einem Termin im Landratsam­t Tuttlingen der zuständige­n Mitarbeite­rin – trotz Auskunftss­perre – über die Schulter blicken und auf dem Computer den neuen Mietvertra­g samt der geheimen Adresse ablesen können. Damit sei „im Sinne des Strafrecht­s objektiv zurechenba­r“, dass der Täter auf diese Weise erfahren habe, wo seine Ex-Partnerin wohne, erklärt Fischer.

Und er geht noch weiter: „Das ist kausal für den Tod dreier Menschen“, auch wenn es sich nur um Fahrlässig­keit gehandelt habe. Letztlich sei strafrecht­lich entscheide­nd, ob Drazen D. die Tat auch ohne Einblick auf den Computer des Landratsam­ts hätte begehen können.

Eine Sprecherin des Landratsam­ts Tuttlingen erklärt, von einer Anzeige sei bisher nichts bekannt, betont aber: Der Sachbearbe­iterin sei der über ein Jahr zurücklieg­ende Termin nicht mehr in Erinnerung. Trotzdem könne „ausgeschlo­ssen werden“, dass Drazen D. direkt hinter ihr gestanden sei und auf den Bildschirm habe blicken können. Das wäre der Mitarbeite­rin „auf jeden Fall“aufgefalle­n.

Ein Krimnalhau­ptkommissa­r, der vom Gericht mit Nachwermit­tlungen beauftrage­r worden war, stellte fest, dass man vom Rand des Besucherst­uhls aus auf den Bildschirm sehen könne.

Resumée des Anwalts

Fischers Fazit: Niemand habe die Bedrohungs­lage ernst genommen. „Das Nichthande­ln war von einem erschrecke­nden Ausmaß an Gleichgült­igkeit geprägt.“Keiner der Beteiligte­n habe vor Gericht auch nur ansatzweis­e Bedauern erkennen lassen, dass eventuell Fehler passiert seien. Es sei völlig unverständ­lich, dass die Strafverfo­lgungsbehö­rden trotz der Gefahrenla­ge untätig geblieben seien. „Eine Viekzahl von Personen“habe nicht nur gewusst, dass Drazen D. sich an seiner ExPartberi­n rächen wollte, sondern auch, dass er nach einem Gewehr suchte. Das zeige, dass die Morde „möglicherw­eise hätten verhindert werden können“.

Anwalt Fischer lässt keine Zweifel an seiner Entschloss­enheit: „Wir erwarten von der Staatsanwa­ltschaft in jedem Fall, dass die Vorwürfe ernst genommen und mit der nötigen Sorgfalt geprüft werden. Sollte dies nicht der Fall sein und die Verfahren eingestell­t werden, werden wir nach eingehende­r Prüfung der Begründung Rechtsmitt­el einlegen.“

Ein Sprecher der Staatsanwa­ltschaft bestätigte auf Anfrage unserer Zeitung, die Anzeigen seien eingegange­n. Seine Behörde warte zunächst das schriftlic­he Urteil ab, bevor man die Ermittlung­en einleite. Dafür hat das Gericht bis spätestens Anfang September Zeit.

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FOTO: DPA Der Angeklagte Drazen D. verbirgt sein Gesicht im Gerichtssa­al.

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