Obdachlose sollen weichen
Kirche toleriert Wohnprojekt im Koppenland nicht länger – Grundstück ist neu verpachtet
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TUTTLINGEN - Als vorübergehendes Winterquartier hat es vor zwei Jahren begonnen, mittlerweile leben zwischen zwei und vier Obdachlose in einer Art kleinen Siedlung auf einer Wiese zwischen Bahnhof und Koppenland (wir haben berichtet). Doch Ende August soll dort Schluss sein. Die Wiese gehört der PfarrgutVerwaltung der Landeskirche, die das Grundstück ab September neu verpachtet. Die evangelische Gesamtkirchengemeinde Tuttlingen, die das Wohnprojekt bislang tolerierte, hat die Bewohner nun zum Rückbau aufgefordert.
Anfangs war es nur ein Zelt gewesen, doch im Laufe der vergangenen zwei Jahre entstanden auf dem Areal hinter dem Bahnhof mehrere Bretterbuden. Die Wiese ist seit zwei Jahren Heimat von Günther und Indy, die dort Gemüse anpflanzen und neben einer Aufenthalts- und Schlafbude auch einen kleinen Schuppen und ein Plumpsklo gezimmert haben. Immer wieder leben noch weitere Menschen in ihrer Siedlung. Derzeit haben Günther und Indy einen dritten Bewohner, der seit zwei Wochen bei ihnen lebt.
Keine Einbrüche mehr
Fakt ist: Kaum jemand störte sich bislang daran, dass sich in der ansonsten unbewohnten Ecke Tuttlingens Wohnsitzlose niedergelassen hatten. Das Ordnungsamt hatte laut Auskunft der Stadt Tuttlingen ebenso wenig zu beanstanden wie die angrenzenden Kleingärtner. Im Gegenteil: Manch einer der Gärtner war froh, dass die Gegend nun besser bewacht war. „Seit sie da sind, gab es keine eingeschlagenen Scheiben oder Einbrüche mehr“, sagt eine angrenzende Gartenbesitzerin im Gespräch mit unserer Zeitung.
Und Wolfgang Dressler, der seit rund 50 Jahren angrenzend an die Kirchen-Wiese einen Garten hat, weiß: „Die Gartenbesitzer, die ich hier kenne, haben keine Probleme mit den Obdachlosen. Sie sind ruhig und friedlich. Braucht man mal Hilfe, kommen sie und packen mit an.“
Bis vor rund zwei Jahren hatte die evangelische Gesamtkirchengemeinde die Wiese für Aktivitäten des Jugendwerks gepachtet. „Wir haben den Mietvertrag gekündigt, weil die Wiese nicht mehr gebraucht wurde“, sagt Kirchenpfleger Jens Melzer. Die damalige Jugendreferentin gestattete den Obdachlosen dann, sich über den Winter auf der Wiese niederzulassen. Im vergangenen Jahr zeichnete sich ab, dass sich das Wohnprojekt vergrößert hatte. „Die Menschen, die dort leben, sind von uns geduldet und wir haben keine Intention, sie wieder wegzuschicken“, hatte sich Dekan Sebastian Berghaus im Pressebericht vom November 2017 zitieren lassen. Überlegungen, die Wiese wieder selbst anzumieten, habe es intern jedoch keine gegeben, so Berghaus.
In der Folge entstand etwas, das Pfarrer Johannes Wischmeyer, Bezirkspressebeauftragter für den evangelischen Kirchenbezirk Tuttlingen, als ein „Nicht-Harmonieren der unterschiedlichen Ebenen“bezeichnet. Offenbar wussten die in der Kirchengemeinde Beteiligten nicht alle, dass der Vertrag mit der Pfarrgut-Verwaltung in Stuttgart gekündigt worden war. Auch nicht, dass diese auf der Suche nach einem neuen Pächter war – und in der Zwischenzeit auch fand. „Dass die Verpachtung so gelaufen ist, hat die Gesamtkirchengemeinde nicht aktiv mitbekommen“, sagt Wischmeyer. Ansonsten hätte man früher eingreifen können, „das hat man schleifen lassen“, sagt er selbstkritisch.
Projekt nur auf Zeit
Allerdings: Längst nicht alle in der Führungsriege der Tuttlinger Kirche wollen, dass die Obdachlosen überhaupt auf der Wiese bleiben. Während der bald scheidende Pfarrer Jens Junginger auf der Suche nach alternativen Grundstücken war, sieht das Dekan Sebastian Berghaus anders. „Wir als Kirche wollen nicht die Verantwortung übernehmen“, sagt er mit Blick auf die knappe personelle Situation in seinen Reihen. „Ich glaube nicht, dass das auf Dauer ohne Begleitung laufen kann“, sagt er, „wir als Kirche können das nicht leisten.“Von Anfang an sei klar gewesen, dass das Projekt nur ein Arrangement auf Zeit gewesen sei.
Zu keiner Aussage bereit war die Stuttgarter Pfarrgut-Verwaltung. Ein Vertreter hatte sich bei einem VorortTermin vor einigen Wochen selbst ein Bild gemacht. Auch Gespräche mit der künftigen Pächterin habe es gegeben. Anfangs sei sie noch bereit gewesen, die Obdachlosen weiterhin dort wohnen zu lassen, habe inzwischen aber ihre Meinung geändert, sagen Melzer und Wischmeyer.
Günther, Indy und ihr Mitbewohner jedenfalls hoffen, dass sich doch noch etwas tut und sie bleiben dürfen. Hätte er gewusst, dass ein Pächter gesucht wird, hätte er die Wiese für rund 100 Euro pro Jahr selbst gepachtet, sagt Günther. Doch gefragt wurde er nicht. „Wir sind ja nur Obdachlose“, sagt er.