Kanzlerin sieht Dublin-System am Ende
Merkel für neue EU-Verteilordnung – Deutschland und Spanien wollen Migration bremsen
(AFP/ dpa) - Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat die bisherige Asylregelung zur Verteilung von Migranten innerhalb der EU, die sogenannte Dublin-Verordnung, für „nicht funktionsfähig“erklärt. „Nach der Theorie dürfte nie ein Migrant oder ein Flüchtling in Deutschland ankommen“, sagte Merkel nach einem Treffen mit dem spanischen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez am Samstag in Sanlúcar de Barrameda. Die Regierungschefs kündigten zudem an, sich für eine Ausweitung der EU-Hilfen für Herkunfts- und Transitländer einzusetzen. Merkel sagte, Deutschland werde Spanien beim Bemühen unterstützen, den Flüchtlingszustrom von Marokko übers Mittelmeer nach Europa einzudämmen.
Merkel erklärte, die Dublin-Verordnung entspreche „nicht der Realität“. Die EU-Mitgliedstaaten müssten daran arbeiten, ein „faires Verteilsystem zu finden und gemeinsam die Rückführung zu organisieren“. Am Samstag trat das Flüchtlingsabkommen zwischen Deutschland und Spanien in Kraft. Bereits in Spanien registrierte Flüchtlinge können damit binnen 48 Stunden dorthin zurückgeschickt werden. Entsprechende Verträge mit Griechenland und Italien sollen folgen. Frankreich hat derweil begonnen, an der Grenze zu Spanien festgenommene Migranten abzuschieben. Grundlage ist eine bilaterale Vereinbarung.
Spanien hat Italien inzwischen als Hauptankunftsland für Migranten in der EU abgelöst, da die neue rechtspopulistische Regierung in Rom praktisch keine Bootsflüchtlinge mehr ins Land lässt. Aktuell betroffen ist davon erneut die „Aquarius“. Das unter anderem von Ärzte ohne Grenzen betriebene Schiff irrt nach der Rettung von 141 Menschen vor der libyschen Küste auf dem Meer umher. Es droht eine neuerliche Hängepartie. Viele Migranten weichen aufgrund dieser Entwicklung in Libyens Nachbarländer Algerien und Marokko aus, um von dort die Überfahrt nach Spanien zu versuchen.
Kanzlerin Merkel sagte Spanien Unterstützung in den Verhandlungen mit Marokko zu. Deutschland habe seinen Beitrag in den europäischen Trustfonds für Tunesien und Marokko eingezahlt, „weil sie Unterstützung brauchen in der Grenzsicherung, weil sie auch Entwicklungszusammenarbeit brauchen“, sagte Merkel. Sánchez mahnte, je größer die Distanz zwischen Europa und Afrika bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung sei, desto größer werde die Tragödie im Mittelmeer sein. „Wir müssen diesen Abgrund irgendwie zuschütten.“Er erklärte, Deutschland und Spanien führten Gespräche mit der EU-Kommission über die Freigabe weiterer Hilfen für Marokko, damit das Land seine Grenze effektiver sichern könne.
Marokkos Behörden haben unterdessen Hunderte Migranten nahe der Mittelmeerküste aufgegriffen und in den Süden des Landes gebracht. Sie sollten dadurch wohl von der Überfahrt nach Europa abgehalten werden. ●
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SANLÚCAR DE BARRAMEDA - Während Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel und Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez am Wochenende in Südspanien ihre Allianz in der Migrationspolitik besiegelten, spielten sich im nahen Meer Dramen ab. Der spanische Seenotrettungsdienst fischte dieser Tage wieder Hunderte Flüchtlinge und Migranten aus dem Wasser. An der südspanischen Küste treiben mehr Flüchtlingsboote als in Italien an.
Bei langen Spaziergängen durch die Sanddünen und die Kiefernwälder des berühmten Doñana-Naturparks an der südspanischen Küste setzten Sánchez und Merkel am Sonntag ihre Gespräche fort, die sie am Samstag am Konferenztisch begonnen hatten. Sánchez hatte die Kanzlerin auf seinen Sommersitz eingeladen, der am Rande des Doñana-Parks liegt. Auch Merkels Ehemann Joachim Sauer und Sánchez’ Frau Begoña Gómez waren dabei.
Es war ein Wochenende der Harmonie zwischen der konservativen Merkel und dem Sozialisten Sánchez, auf dem sie eine Nord-SüdAchse in der Migrationspolitik zimmerten. Sie demonstrierten Einigkeit beim Willen, die Migration übers Mittelmeer zu bremsen – mit gemeinsamen Lösungen. Dazu gehört eine bessere Absicherung der europäischen Seegrenze. Und bessere Zusammenarbeit mit dem gegenüberliegenden Marokko und mit den afrikanischen Herkunftsländern.
Vertrag mit Signalwirkung
Als Willkommensgeschenk hatte Sánchez vor dem Treffen den Weg für eine schnelle Rücknahme von Asylbewerbern freigemacht, die bereits in Spanien einen Antrag stellten. Die Vereinbarung betrifft nur über Spanien eingereisten Asylsuchende, die an der deutsch-österreichischen Grenze aufgegriffen werden – was sehr wenige sind, weil die meisten offenbar über Frankreich kommen.
Trotzdem wurde der Vertrag von beiden Seiten als Signal gewertet, dass Deutschland und Spanien gegen die sogenannte Sekundärmigration, den unkontrollierten Weiterzug von Asylbewerbern innerhalb Europas, vorgehen wollen. „Ich schätze dieses Abkommen sehr, sehr hoch“, sagte Merkel. Mit Griechenland werde über eine ähnliche Vereinbarung gesprochen. Nur mit Italien scheint es in dieser Frage noch zu haken.
Merkel und Sánchez sprachen zudem über eine Reform der DublinVerordnung zur Rückführung von Flüchtlingen. Nach der EU-DublinVereinbarung müssen Flüchtlinge eigentlich in dem Mitgliedsland ihren Asylantrag stellen, in dem sie europäischen Boden betreten – was aber oft nicht geschieht. „Wir alle erleben doch, dass das bisherige Dublin-System nicht funktionsfähig ist“, sagte Merkel. „Nach der Theorie dürfte nie ein Migrant oder Flüchtling in Deutschland ankommen.“
Wenn deutsche Behörden derzeit in Spanien, Italien oder Griechenland unter Verweis auf die DublinVerordnung auf die Rücknahme von Flüchtlingen drängen, wird die Bitte meist abgelehnt. Im Falle Spaniens hatte Deutschland 2017 genau 2312 Dublin-Rückführungen beantragt, die spanischen Behörden stimmten nur in 217 Fällen zu. Hier mahnte Merkel Fortschritte an. Sánchez wünscht, dass die Europäische Union sein Land stärker bei der Absicherung der Seegrenze und bei der Versorgung der Ankommenden unterstützt, wobei er auf Merkels Hilfe zählen kann. Seit Jahresanfang kamen nach UNAngaben mehr als 29 000 Menschen an der andalusischen Küste oder in den spanischen Nordafrika-Exklaven Ceuta und Melilla an. Im Italien waren es im gleichen Zeitraum knapp 19 000.
Spanien lehnt Ankunftszentren ab
Kein Fortschritt zeichnete sich derweil hinsichtlich der Idee ab, in Südspanien große Ankunftszentren für Flüchtlinge zu eröffnen, in denen mit EU-Hilfe zentral über Bleiberechte und Abschiebungen entschieden wird. Dies ist ein Vorschlag, der in den Beschlüssen des EU-Asylgipfels Ende Juni in Brüssel enthalten ist. Aus diesen „kontrollierten Zentren“sollen Schutzbedürftige in andere EU-Länder verteilt und Nichtbleibeberechtigte in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden.
Sánchez hatte bereits vor dem Treffen mit Merkel klargestellt, dass solche „kontrollierten Zentren“für Spanien derzeit nicht infragekommen. Dabei spielt auch die Sorge eine Rolle, dass große Migrantenlager in Spanien für weiteren sozialen und politischen Zündstoff sorgen könnten. Spaniens konservative Opposition feuert bereits scharf gegen Sánchez, dem sie vorwirft, in der Flüchtlingspolitik zu weich zu sein, die falschen Zeichen zu setzen und so für einen Sogeffekt Richtung Spanien zu sorgen.