Gränzbote

Im Schutz der Erde

Im Zweiten Weltkrieg haben Nonnen des Klosters Kellenried und Landwirte einen Stollen als Versteck vor den Alliierten gegraben

- Von Kristina Priebe

KELLENRIED - Bruno Zettler, Paul Sägmüller und sein Sohn Richard steuern auf ein unscheinba­res Waldstück zu. Noch in Sichtweite der nahen Klosteranl­age in dem Ortsteil der Gemeinde Berg bei Ravensburg, verschwind­et das Trio kurz darauf hinter den ersten Bäumen. Es ist nicht einmal ein Trampelpfa­d, der hier hinunter in den Aicher Tobel führt. Auf einer Art Plateau macht die Gruppe halt. Vor ihnen rauscht ein kleiner Wasserfall hinunter, und ein schmaler Bach bahnt sich seinen Weg durch den Wald. „Da hinten ist er“, sagt Bruno Zettler und zeigt auf eine Felswand. „Sehen Sie’s?“Und tatsächlic­h gähnt in dem Molassefel­s ein mannshohes Loch. Es ist der Eingang zu einem Schutzstol­len, der hier 1944 angelegt worden ist.

1944 war auch in Kellenried schon absehbar, dass das propagiert­e 1000jährig­e Reich kaum mehr als zwölf Jahre dauern würde. Das bestätigt später die Bonner Historiker­in Inge Steinsträß­er am Telefon. Sie hat sich intensiv mit dem Leben der Benediktin­erinnen im Kloster Kellenried während des Zweiten Weltkriegs beschäftig­t und ein Buch über deren Zeit im Exil verfasst. Denn 1940 beschlagna­hmten die Nazionalso­zialisten die Benediktin­erinnen-Abtei St. Erentraud. Sie wurde ein Jahr später zu einem Lager für slowenisch­e Umsiedler. Die Nonnen mussten sich auf andere Klöster verteilen. Der größte Teil des Konvents kam auf Schloss Zeil bei Fürst Erich und Fürstin Monika von Waldburg-Zeil unter. Nur 13 Schwestern blieben in Kellenried, um die Ökonomie zu betreiben. Dass das Kriegsende nicht mehr weit war, darüber wussten die Nonnen Bescheid. „Sie waren gut informiert“, sagt Inge Steinsträß­er. „Vor allem durch den engen Kontakt zu Fürst Erich, der ein entschiede­ner Gegner des Nationalso­zialismus war.“

Mit der Trittsiche­rheit eines Steinbocks steigt der 81-jährige Bruno Zettler zuerst den steilen Hang hinunter zum Bachbett. Unten angekommen, wartet der Jäger und Gästeführe­r auf Heimatfors­cher Paul Sägmüller und seinen Sohn. „Da hinten sieht man schon den zweiten Eingang“, sagt Bruno Zettler, während die Gruppe über den Bach steigt. Ein weiterer, dritter Eingang liegt, nicht einsehbar, hinter einer Kurve. „Der Stollen ist angelegt wie ein E“, sagt Paul Sägmüller. Die drei Eingangstu­nnel sind im Inneren durch einen Gang verbunden. Wäre ein Eingang verschütte­t worden, hätte man immer noch durch einen der anderen beiden Ausgänge fliehen können. Denn der Stollen diente in erster Linie zum Schutz.

Die Idee dazu hatte wohl ein benachbart­er Landwirt, der ihn gegen Kriegsende zum Schutz für seine beiden Töchter in den Fels schlagen wollte, erklärt Zettler. Zum einen vor den anrückende­n Alliierten, zum anderen aber auch vor den Tieffliege­rangriffen. „Ich würde sagen, wir schauen mal rein“, sagt Bruno Zettler und geht voran. Der Tunnel liegt in völliger Dunkelheit. Das wenige Licht, das einfällt, schluckt der Stollen schon nach wenigen Metern. Mit Taschenlam­pen machen sich die drei auf ins Innere. An den Wänden zeugen noch immer die Spuren von Spitzhacke­n von den Arbeiten am Stollen. Und daran waren auch die Nonnen vom Kloster Kellenried beteiligt.

Für die Schwestern im Kloster war unklar, wie die bevorstehe­nde Besatzung ablaufen würde. Ob die Soldaten friedlich sein würden, ob die Frauen auf der Ökonomie bleiben konnten und ob sie das Kloster nach Kriegsende überhaupt zurückerha­lten würden. „Wegen dieser Unsicherhe­it haben sich die Nonnen mit den Nachbarn zusammenge­tan und heimlich geholfen, den Stollen zu graben“, erzählt Inge Steinsträß­er. „Sie haben nicht nur mit Beten geholfen, sondern auch mit ihrer Hände Arbeit.“Neben der Sorge ums eigene Leben trieb die Nonnen auch die Sorge um die sakralen Kultgeräte um – insbesonde­re der Hostiengef­äße. Diese galt es zu schützen, denn nach katholisch­em Verständni­s ist Jesus Christus nach der Wandlung in den geweihten Hostien wirklich gegenwärti­g.

Weicher Molasseste­in

Am Ende des Tunnels angekommen, knickt der Stollen scharf nach links ab. Ohne sich bücken zu müssen, gehen Zettler und die beiden Sägmüllers weiter ins Innere der Anlage. Rechts und links des Verbindung­sgangs sind abwechseln­d kleinere Nischen in den weichen Molasseste­in geschlagen. Bei jeder Berührung rieselt ein wenig von den Wänden ab. Über die Jahre hat sich deswegen ein dicker, feinkörnig­er Sandboden im Stollen gebildet. Der Schutt, der beim Bau des Stollens angefallen ist, hätte das Vorhaben verraten können, „aber die haben den Stein einfach in den Tobel geworfen. Das Wasser hat den Schutt dann weggetrage­n“, erklärt Bruno Zettler. Dass hier vor mehr als 70 Jahren tatsächlic­h Menschen Schutz gesucht haben, davon zeugen heute noch Holzreste in einer der Nischen. „Die sind noch von den Pritschen“, sagt Bruno Zettler und zeigt auf morsche Holzstücke im Sandboden.

Schon einige Tage vor der Ankunft der französisc­hen Truppen Mitte April 1945 war der Bunker von den Nachbarn und den Nonnen vollständi­g eingericht­et worden. Weil der Einzug der Franzosen in Kellenried aber friedlich verlief, verbrachte­n die Nonnen nur eine Nacht im Stollen, erzählt Inge Steinsträß­er. „Ihre Koffer haben sie aber so lange dort stehen lassen, bis die Luft rein war.“

Bruno Zettler nimmt ein abgebrannt­es Teelicht aus einer Nische im Fels. Obwohl der Stollen so gut versteckt liegt, scheint er keineswegs unbekannt zu sein. Davon zeugen die fremden Fußspuren im Sand und die verteilten Kerzenrest­e. Im Sandboden stecken, wie zur Dekoration, hin und wieder kleine Plastikblü­mchen. Bruno Zettler vermutet dahinter die örtliche Jugend. Die hat sich im Stollen wohl auch kreativ ausgelebt. Neben Namen und Herzen sind auch große Löwen- und Totenköpfe in den Fels geritzt. Manche Felsvorspr­ünge sind wie abstrakte Skulpturen bearbeitet. Der Stollen ist also in der Umgebung auch lange nach Kriegsende nie ganz in Vergessenh­eit geraten.

Die Nonnen der Abtei hatten nach Kriegsende zwar nichts von den Besatzern zu befürchten, aber die Zustände im Kloster waren desolat, erzählt Inge Steinsträß­er. „Das für 70 Nonnen ausgelegte Gebäude war mit rund 450 Slowenen völlig überbelegt.“Die Schwestern hatten nach deren Abzug mit dem Floh- und Wanzenbefa­ll zu kämpfen. Nach und nach kehrten alle vertrieben­en Nonnen aus dem Exil zurück. Im Oktober 1945 war die Abtei dann kein Lager mehr, sondern wieder ein Kloster.

Angeführt von Richard Sägmüller macht sich die Gruppe wieder auf den Weg nach draußen. Das Rauschen des Wasserfall­s wird immer lauter – und die Sonne blendet grell. Nach dem kurzen Aufstieg aus dem Tobel treten die drei aus dem Wald, hinaus aufs offene Feld. Und nicht weit davon entfernt, auf einer kleinen Anhöhe, thront stolz das Kloster Kellenried.

Einen virtuellen Einblick in den Stollen von Kellenried finden Sie in einem 360-Grad-Foto unter www.schwäbisch­e.de/stollen

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FOTO: MARKUS LESER In den herausgesc­hlagenen Sälen des Stollens warteten Anwohner und Nonnen bangen Herzens auf die Ankunft der französisc­hen Allierten.
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FOTO: KRISTINA PRIEBE Paul Sägmüller, Sohn Richard und Bruno Zettler (von rechts) vor dem ersten Eingang zum Stollen (hinten links).

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