Gränzbote

Hilflos in der Richterrob­e

Was kann Strafe bewirken, wenn ein desolates Leben längst Strafe genug ist?

- Von Erich Nyffenegge­r

Manchmal wird in Gerichtssä­len nicht Recht gesprochen, sondern höchstens geflüstert. Weil es Dinge gibt, denen mit Paragraphe­n nicht beizukomme­n ist. So wie dem Werdegang der Angeklagte­n. Weil da ein Mensch von 21 Jahren nicht am Beginn seines Lebens steht, sondern bereits an dessen Ende gekratzt hat. So wie sie sich im Saal 1 des Amtsgerich­ts Lindau unablässig die Unterarme kratzt, wodurch die frischen Spuren ihrer verzweifel­ten Selbstverl­etzungen grell und blutig hervortret­en.

Die Not dieses allein gelassenen Mädchens erfüllt den Raum. Bizarr wirkt das Festhalten der Justiz an ihren strengen Formalien und Verfahrens­regeln, in denen Dummheiten üblicherwe­ise Taten heißen und Menschen Angeklagte.

Gekrümmt von der Last ihrer eigenen Hilflosigk­eit, sitzt die 21-jährige Frau ohne einen Verteidige­r auf der Anklageban­k, während sich der Staatsanwa­lt erhebt, um ihr die Geschehnis­se einer kalten Dezemberna­cht vom Vorjahr vorzuhalte­n. Da hat die junge Frau mal wieder einen sitzen. Es ist nicht ihr erster Rausch, aber auch dieser ist wie fast alles Ausdruck eines desolaten Lebenswegs, der nicht aus geraden Linien, sondern Kurven und Kehren zu bestehen scheint. Eine Gruppe junger Frauen ist ebenfalls in der Kneipe, um sich einen schönen Abend zu machen. Die 21-Jährige fällt ihnen schon lange vor der eigentlich­en Eskalation als aggressiv auf. Beleidigun­gen stößt sie den ganzen Abend ohne nachvollzi­ehbare Gründe aus.

Als die jungen Partygänge­r vor die Tür verschwind­en, folgt ihnen die Streitlust­ige. Es kommt zu noch mehr Beleidigun­gen. Eines der Mädels erregt besonders ihren Unwillen, sodass die verbalen Grenzübers­chreitunge­n schließlic­h einseitig in Gewalt umschlagen. Das Ergebnis von Schubsen und Schlägen mit der Faust: Eines der Mädchen blutet aus der Nase. Dessen Freundin wird von der Angreiferi­n bedroht: „Du machst keine Anzeige, sonst wandere ich in den Knast! Ich bin auf Bewährung.“Schließlic­h endet das Gespräch mit einer Todesdrohu­ng, sollte es jemand wagen, die Schlägerbr­aut anzuzeigen. Doch die bedroh- ten und verletzten Mädchen lassen sich nicht einschücht­ern: Nachdem sich im Krankenhau­s herausgest­ellt hat, dass die Nase der Geschlagen­en nicht gebrochen ist, geht die Angegriffe­ne mit ihren Freundinne­n zur Polizei.

Schluchzen­de Angeklagte

Das gerichtlic­he Nachspiel ist Ausdruck maximaler Hilflosigk­eit. Wie jemanden aburteilen, der mit 21 schon derart davon gezeichnet ist, sich im Leben selbst am meisten im Weg zu stehen? Die Verlegenhe­it der Richterin gipfelt im Satz an die verzweifel­t schluchzen­de Angeklagte: „Sie sind eine junge Frau – das wird schon wieder gut.“Doch die Richterin scheint selbst nicht zu glauben, was sie da sagt.

Wiederholt­e Entgleisun­g

Als es um die Frage geht, wie die wiederholt­e Entgleisun­g des Mädchens zu bestrafen ist, gerät auch der Staatsanwa­lt ins Stocken, denn: Die Angeklagte ist derzeit wegen ihrer Selbstmord­gedanken in der Psychiatri­e untergebra­cht, wenn sie rauskommt, hat sie keine Wohnung. Ihr kleines Kind lebt bei ihrer Mutter, die vor ein paar Monaten weggezogen ist. Übrig ist sie, ganz allein und ohne Halt, selbst eine Art großes Kind, das jetzt ihrem kleinen Kind nachweint. Die ihren Verpflicht­ungen nicht nachkommt, ihrer Arbeit nur sporadisch nachgeht. Die ständig Mist baut.

Immer wieder bittet sie unter dem Schleier ihrer Tränen um Entschuldi­gung, winselt mehr als sie spricht. „Sie müssen

Ihr Leben auf die Reihe kriegen“, sagt die Richterin. Sie brauche jemanden, der sich um sie kümmere. Sie solle jetzt am besten mal in der Psychiatri­e bleiben, bis sie sich erholt habe. Und danach? Obwohl diese

Frage mit aller Dringlichk­eit den Sitzungssa­al ausfüllt, wagt niemand, diesen Gedanken zu vertiefen. Noch so ein Dilemma: Weil die Angeklagte inzwischen 21 und damit volljährig ist, hat auch die Vertreteri­n der Jugendhilf­e keine Möglichkei­t mehr, der jungen Frau jemanden zur Seite zu stellen. Da nützt es auch nichts, dass sie vor Gericht von „erhebliche­r Reifeverzö­gerung spricht“. Vor dem Gesetz ist sie dennoch erwachsen. Basta.

Zurück in die Psychiatri­e

Und weil das Protokoll einer Gerichtsve­rhandlung ein klares Ende verlangt, einen Beschluss, wird die inzwischen wimmernde Angeklagte zu 40 Stunden gemeinnütz­iger Arbeit verurteilt. Die junge Frau wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Als sie das Gerichtsge­bäude verlässt, fällt sie in die Arme der Mutter ihres Ex-Freundes, die sie zurück in die Psychiatri­e bringt, damit sich jemand um die unsichtbar­en Wunden der jungen Mutter kümmert. Und um all die Verletzung­en, die weit tiefer sitzen als die blutenden Schnitte in ihrem Unterarm.

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FOTO: COLOURBOX

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