Bronze gegen alle Widerstände
Vor dem Hochsprung-Coup von Marie-Laurence Jungfleisch wird im Olympiastadion das Laupheimer Nazi-Opfer Gretel Bergmann gewürdigt
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BERLIN - Am Tag danach posierte Marie-Laurence Jungfleisch schon wieder für einen Fotografen von „Y – das Magazin der Bundeswehr“. Die 27-jährige Sportsoldatin salutierte, doch irgendwie sieht das immer etwas seltsam aus bei jungen Frauen. Wenn Gott es optisch sehr lieb mit ihnen meinte wie mit dem Stuttgarter Unteroffizier – die weibliche Form gibt es bei den Streitkräften noch nicht -, sogar doppelt seltsam.
Dass Marie-Laurence Jungfleisch, geboren in Paris, Tochter eines Vaters aus Martinique und einer Deutschen, bis dato auf große Modelshootings verzichtet hat und ihre Anerkennung auf rein sportlichem Weg sucht – Anna Kournikova oder Magdalena Brzeska gingen einst den umgekehrten Weg -, ehrt sie. „Ich nehme nur wenige Angebote an, und wenn, dann nur seriöse“, sagt Jungfleisch. Freitagnacht dürfte sie in jedem Fall zu den meistfotografierten Frauen des Landes gehört haben – mit übersprungenen 1,96 Metern gewann die Hochspringerin EM-Bronze, es war die erste internationale Medaille ihres Lebens. Manche hatten auf mehr gehofft, nachdem die 1,81 Meter große Athletin souverän alle Höhen im ersten Versuch gemeistert hatte. Bei 1,98 aber war Endstation, den dritten Versuch schenkte sie sogar her: Wegen einer Irritation brach sie den Anlauf ab, dann ging ihr die Zeit aus.
Bergmanns Videobotschaft
Gold ging an die Favoritin Maria Lassizkene. Die als neutrale Athletin startende Russin, Weltmeisterin von 2015/17, siegte vor der mit 2,00 Meter höhengleichen Bulgarin Mirela Demirewa. Auch Jungfleisch hat die Schallmauer bereits zweimal überwunden, 2016. In diesem Jahr war sie oft verletzt gewesen, umso mehr freute sie sich über den größten Erfolg ihres Sportlerlebens nach zahllosen vergeblichen Medaillen-Anläufen: „Es war richtig cool, die Unterstützung hier im Stadion hat mich richtig gepusht. Die Stimmung war gigantisch.“
Begonnen hatte der HochsprungAbend mit einer Videobotschaft einer Hochspringerin, der die Nazis vor 82 Jahren den Olympia-Start in Berlin verweigert hatten: der Laupheimerin Gretel Bergmann. Die Jüdin, die im Vorjahr mit 103 Jahren in New York verstarb, bekam in der kurzen Sequenz, aufgenommen im April 2017 zu ihrem Geburtstag, von Dagmar Freitag (SPD), der Sportausschuss-Vorsitzenden im Bundestag, Blumen überreicht und sendete Grüße ins sportbegeisterte Deutschland. Mit der Botschaft wolle man zeigen, dass man Unrechtsregimes in diesem Land nie mehr dulden werde, sagte Freitag.
Jungfleisch hat Bergmann nie getroffen, aber sie hat ihre eigenen Erfahrungen mit Rassismus gemacht. Mit elf wurde sie wegen ihrer Hautfarbe in einer Realschule in Freiburg so gemobbt, dass sie die Schule wechseln musste. Sie will nicht mehr darüber reden, nur soviel: „Jetzt bin ich erfolgreich, sehr selbstbewusst und stolz auf meine Herkunft. Ich habe in meinem Leben Selbstvertrauen gesammelt, auch dank der Leichtathletik, und in unserem Sport gibt es ohnehin keinen Rassismus.“Im Gegensatz zu den Fußballstadien, „wo manche eben einen Sündenbock brauchen und ihre Aggressivität abladen müssen“, wie Jungfleisch glaubt.
Jungfleisch ist gelernte Erzieherin
Dass kleine und große Kinder grausam sein können, auch zu weit Schlimmerem als nur zu Mobbing fähig, hat Marie-Laurence Jungfleisch nicht davon abgehalten, sie zu lieben. Ebenso liebt sie ihren Sport – schon mit 13 übersprang sie 1,75 Meter. Und irgendwie wandelte sie damit auch auf den Spuren von Gretel Bergmann, die nach der Flucht in die USA weiterhin als Springerin erfolgreich war.
Jungfleisch, die für den VfB Stuttgart antritt, machte nach der Realschule eine Ausbildung als Erzieherin im Kindergarten – vor Jahren beschwerte sie sich im Namen ihrer Kolleginnen einmal massiv über die schlechte Bezahlung und mangelnde Anerkennung in diesem Job. Und zuletzt holte sie ihr Fachabitur nach. Inzwischen studiert sie in Esslingen Soziale Arbeit.
Sie könne sich vorstellen, auch künftig mit Kindern zu arbeiten, sagte Marie-Laurence Jungfleisch noch. Am Morgen nach ihrem Erfolg lebte sie aber erst einmal ihr inneres Kind aus. In einem Afro-Salon ließ sie sich Cornrow-Zöpfchen ins Haar flechten. „Das wollte ich schon die ganze Saison machen, aber ich hab’ mich nicht getraut, weil die Zöpfe so weit runterhängen und die Latte berühren könnten.“Der Sport bleibt Nr. 1 bei ihr.