Gränzbote

Beste Werbung für die Leichtathl­etik

Viele Zuschauer, ein schwäbisch­er König, ein Rätsel – die Tops und Flops der EM

- Von Jürgen Schattmann

BERLIN - Die Leichtathl­etik ist wieder da ... so könnte man zumindest glauben. Auch wenn nicht alles für alle wie gewünscht lief, überzeugte die Leichtathl­etik-EM in Berlin während der ganzen Woche mit grandioser Stimmung, gutem Wetter – und spannenden Wettkämpfe­n. Unsere Tops und Flops von Berlin.

DIE TOPS

Zuschauer/EM-Macher: Mit ● mehr als 300 000 verkauften Karten – 50 000 Zuschauer waren im Schnitt pro Tag im Stadion – verbuchte Berlin einen EM-Rekord. Noch wichtiger: Die Zuschauer waren laut, enthusiast­isch und fair: Rivalen der Deutschen wurden nicht etwa ausgepfiff­en, sondern im Zweifel ebenfalls gefeiert. Die Siegerehru­ng in einem kleinen Extrastadi­on auf dem Breitschei­dplatz zu machen, war eine glänzende Idee. „Die Fans sind da so nah, die Emotionen gehen direkt in einen über. Das war wirklich überragend“, freute sich der Ulmer Zehnkampf-Europameis­ter Arthur Abele. Apropos ...

Arthur Abele: Auferstand­en aus ●

Ruinen, Phoenix aus der Asche, der Unsterblic­he – man könnte viele Superlativ­e finden für den Zehnkämpfe­r, der beim TSV Hüttlingen auf der Ostalb groß wurde und dort als Elfjährige­r von einem Heuboden fiel. „Meine Kniescheib­e war vierfach gebrochen, mein Oberschenk­el sowie ein Halswirbel waren ebenfalls gebrochen. Um ein Haar wäre ich gelähmt gewesen“, erzählte er später. Seit Mittwoch und tausend Verletzung­en später ist der Mann, der sich weigert, aufzugegen, Zehnkampf-Europameis­ter. Der Oskar fürs Lebenswerk geht nach Ulm.

Die blaue Bahn im Olympiasta­dion: ● Es gibt nicht mehr viele große Arenen in Deutschlan­d, in denen Leichtathl­etik betrieben werden kann. In Berlin hätten die Fußballer die blaue Laufbahn gerne weg, die Leichtathl­eten wehren sich. Hoffentlic­ht mit Erfolg. Denn wenn Deutschlan­d eines Tages einmal wieder Sommerspie­le austragen darf, dann wohl nur mit dem Kandidaten Berlin. Dann aber ein neues Stadion mit neuer Bahn zu bauen, wäre Wucher. Und im Falle Berlin – siehe Flughafen – immer auch ein wenig unkalkulie­rbar.

Leichtathl­eten: Oft ● und häufig wurden sie in den vergangene­n Jahren als eine Art Riesenschn­ecken verunglimp­ft. Kaum wird in puncto Doping internatio­nal ein

Deutsche

wenig aufgeräumt, geht es aufwärts mit den Medaillen. Ein Zufall? Kann sein, muss aber nicht. Ohnehin ist in puncto Leistung noch Luft nach oben. „Es haben viele Dinge funktionie­rt, aber bei Weitem nicht alles“, sagte DLV-Cheftraine­r Idriss Gonschinsk­a. Wohltuend: Die deutschen Athleten bleiben sich treu, selbst unter Beobachtun­g. Nehmen kein Blatt vor den Mund, haben ihre eigene Meinung, kritisiere­n im Zweifel auch mal die Kanzlerin für ihr Fernbleibe­n (Christina Schwanitz, Abele) und vor allem: Beweisen, dass sie auch etwas im Kopf haben.

Die Ingebrigts­ens: Die drei Brüder ● Jakob (17), Filip (25) und Henrik (27) dominierte­n die 1500 und 5000 Meter in Berlin auf eine Weise, dass mancher Rivale glaubt, dass einiges nicht mir rechten Dingen zugeht in ihrem Elternhaus. Timo Benitz etwa, der Deutsche Meister, gab sich im TV zumindest argwöhnisc­h. Zweimal siegte Filip – über die 1500 lief er kürzlich bereits eine 3:31. Ist er ein Wunderkind? „Er ist so routiniert gelaufen, als wäre er zehn Jahre älter als alle anderen", sagte Henrik, 2012 Europameis­ter, diesmal Vierter über 1500 Meter und Zweiter über 5000. Filip, der 2016 Gold holte und diesmal Zwölfter wurde, sagt: „Es ist der erste von vielen Erfolgen, die noch kommen werden für Jakob. Diese EM war vielleicht unsere letzte Chance, ihn noch mal einzufange­n.“Die 13:17,06 Minuten von Jakob Ingebrigts­en über 5000 Meter sind neuer Junioren-Europareko­rd. Die Familie hat insgesamt sieben Kinder. Der Jüngste ist erst fünf, die Talentiert­este angeblich die Elfjährige. Vater Gjert trainiert die Familie, einschlägi­ge Erfahrung hat er nicht. Er ist im Logistikge­werbe tätig. Vor 15 Jahren fing er an, mit den Ältesten das Laufen zu trainieren, „weil man ja die Kinder irgendwie beschäftig­en muss".

Die Multi-Europameis­terschafte­n: ● Berlin (Leichtathl­etik) und Glasgow (Schwimmen, Turnen, Triathlon, Rudern ...) haben die Sportarten wie bei Olympia gebündelt. Das ist kein neues Konzept, bei den Commonweal­th oder Asian Games läuft es ähnlich. Eigentlich hatte die Idee nur eine Schwäche, bemängelte Leichtathl­etik-EM-Macher Clemens Prokop: „Der einzige Fehler war, dass nicht alles in einer Stadt stattfand.“Und das soll künftig neben anderen Berlin sein. Die Deutschen wollen sich 2022 wieder bewerben, der ganze nationale Sport scheint sich einig zu sein. Mit den Bildern der Leichtathl­etik-EM hat Berlin für sich gemacht. beste Werbung

DIE FLOPS

Der ewige Nationenst­reit: Drei ●

Jahre muss ein Leichtathl­et neuerdings warten, bis er die Nation wechseln kann. Früher ging so ein Transfer etwas schneller, was dafür sorgt, dass vor allem über die Langstreck­e inzwischen zahlreiche in eine europäisch­e Nation eingebürge­rte Afrikaner am Start sind. Dennoch wird auch die neue Regel Läufer aus Äthiopien und Kenia nicht davon abhalten, in gut zahlende Länder wie die Türkei – oder auch internatio­nal gesehen nach Katar und Bahrain abzuwander­n, die ihnen angeblich im Goldfall bis zu einer Million Euro dafür zahlen. Jede europäisch­e Nation behandelt die Einbürgeru­ng von Sportlern anders, Deutschlan­d sehr stringent. Die schwarzen DLV-Athleten sind mehrheitli­ch hier geboren oder haben Jahre im Land gewohnt, bis sie den deutschen Pass bekamen.

Robert und Christian Harting: ●

Diesmal gehörten die Diskus-Olympiasie­ger ausnahmswe­ise beide zu den Verlierern – ausgerechn­et in ihrer Heimatstad­t, und ausgerechn­et zum Karriereen­de von Robert. Der kokettiert­e zwar in zwei, drei Interviews nochmal mit seinem Comeback – klar, mit EM-Rang sechs wollte eine Legende wie er eigentlich nicht abtreten. Ein gutes Happy End, eines nahe dem Zenit, ist nur wenigen Sportlern vergönnt. Rio-Sieger Christoph hat noch einige Jahre vor sich – und Arbeit. Dreimal der gleiche Fehler, und nach der Quali war Schluss.

Richard Ringer: Der EM-Dritte ● von 2016 vom VfB LC Friedrichs­hafen war einer der deutschen Pechvögel. Entkräftet, übersäuert und chancenlos musste Ringer nach zwei Dritteln des 10000-Meter-Laufs aufgeben – als Erster der europäisch­en Rangliste. Und über die 5000 Meter am Samstag konnte er erst gar nicht antreten. Was Ringer daraus lernen kann? Schwierig. Ein Körper und ein Organismus ist keine Maschine, jeder reagiert unterschie­dlich auf Belastung und die Hitze von Berlin. Die 40 Grad wurden dem 28-Jährigen wohl zum Verhängnis.

Raphael Holzdeppe: Mit 21 war er ●

Weltmeiste­r, mit 28 ist er ein Rätsel. Zum dritten Mal in Serie verpasste der Stabhochsp­ringer das Finale einer großen Meistersch­aft, diesmal sogar mit einem Salto nullo. Allerdings war der Zweibrücke­r wie Ringer kurz vor der EM noch verletzt.

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FOTO: IMAGO Doppel-Top – Gold-Zehnkämpfe­r Arthur Abele und Berlino.

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