Gränzbote

20 000 unnötige Todesfälle

Aktionsbün­dnis fordert Offensive zur Patientens­icherheit

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BERLIN (KNA) - Angesichts von offenbar bis zu 800 000 vermeidbar­en medizinisc­hen Komplikati­onen pro Jahr hat das Aktionsbün­dnis Patientens­icherheit (APS) eine neue Offensive im Gesundheit­swesen verlangt. Nach dem am Donnerstag in Berlin vorgestell­ten „APS-Weißbuch Patientens­icherheit“reichen sie von Druckgesch­würen über Fehldiagno­sen bis zu schweren Infektione­n. Es komme geschätzt zu 20 000 vermeidbar­en Todesfälle­n, etwa durch Krankenhau­skeime, erläuterte der für die Studie verantwort­liche Gesundheit­swissensch­aftler Matthias Schrappe.

Als Hauptursac­hen für vermeidbar­e Komplikati­onen nannte Schrappe mangelnde Koordinati­on und Informatio­nsweiterga­be, Versagen von Teams sowie fehlende Vorbildfun­ktion der Führung. Nur drei Prozent aller Patienten, die von Fehlbehand­lungen ausgingen, reichten Klage ein, sagte APS-Chefin Hedwig FrançoisKe­ttner.

BERLIN - Albtraum Arztfehler: Nicht erkannte Erkrankung­en, falsche Medikament­e, im Körper vergessene­s Operations­besteck: Mehr als 10 000 teils gravierend­e Fälle werden jedes Jahr von den Krankenkas­sen begutachte­t. Zwar ist in den vergangene­n Jahren einiges getan worden, in Sachen Patientens­icherheit besteht aber weiter „akuter Verbesseru­ngsbedarf“, erklären der Verband der Ersatzkass­en (vdek) und das Aktionsbün­dnis Patientens­icherheit (APS) am Donnerstag bei der Vorstellun­g des neuen Weißbuchs zum Thema. Die Organisati­onen pochen auf eine „Patientens­icherheits­offensive“und legen einen Forderungs­katalog vor. Tobias Schmidt stellt die wichtigste­n Fragen zum Thema.

Wie ist es um die Patientens­icherheit bestellt?

Bei fünf bis zehn Prozent aller Krankenhau­sbehandlun­gen in Deutschlan­d treten „unerwünsch­te Ereignisse“auf – von Druckgesch­würen über Fehldiagno­sen bis hin zu schweren Infektione­n. „800 000 dieser Ereignisse wären vermeidbar“, schreibt Professor Matthias Schrappe, Autor des Weißbuchs. Der Kölner Wissenscha­ftler hat zahlreiche Studien ausgewerte­t. Sein Fazit: Bei einer von hundert Behandlung­en kommt es zu Fehlern. In jedem 1000. Fall hätte der Tod eines Patienten vermieden werden können. Mehr als 400 000 Patienten stecken sich in Deutschlan­d jährlich in Krankenhäu­sern an. 30 000 von ihnen mit sogenannte­n multiresis­tenten Keimen.

Hat sich die Situation verbessert?

Es ist viel getan worden: Es gibt OPChecklis­ten, damit kein Behandlung­sbesteck im Körper vergessen wird. Die Aktion „Saubere Hände“hat die Hygiene verbessert. Fehlermeld­esysteme und ein verpflicht­endes Qualitätsm­anagement der Kliniken werden als gute Beispiele genannt. Dennoch: Mit Blick auf die Zahl der Behandlung­sfehler und die „unerwünsch­ten Ereignisse“lasse sich gegenüber 2008 „keine Änderung“erkennen, bilanziert Schrappe.

Was wollen die Ersatzkass­en und das Aktionsbün­dnis erreichen?

Die Organisati­onen werben für ein Umdenken: „Patientens­icherheit ist kein Kosten-, sondern ein Erfolgsfak­tor“, erklärt die APS-Vorsitzend­e Hedwig Francois-Kettner am Donnerstag in Berlin. Wer in die systematis­che Vermeidung von Behandlung­sfehlern investiere, helfe nicht nur den Patienten, sondern spare auch Geld, so die Botschaft.

Was sind die konkreten Forderunge­n?

Sieben Kernanlieg­en werden genannt. Die wichtigste­n: Alle Organisati­onen des Gesundheit­swesens von Arztpraxen über Pflegedien­ste bis zu Kliniken sollen gesetzlich verpflicht­et werden, Verantwort­liche für Patientens­icherheit einzusetze­n. Eine verbindlic­he bundeseinh­eitliche Hygiene-Richtlinie würde Infektione­n minimieren. Die Teilnahme an Fehlermeld­ungssystem­en sollte verpflicht­end werden. Und ein Implantat-Register für Hochrisiko­produkte wie Herzklappe­n, Herzschrit­tmacher oder bestimmte Hörprothes­en. Alle Hersteller, Kliniken und Krankenkas­sen (auch die privaten) müssten sich beteiligen.

Können sich die Patienten selber schützen?

Auch diese und deren Angehörige müssen aus Sicht von vdek und APS stärker einbezogen werden. Mit neuen Richtlinie­n soll der Austausch und die Aufklärung zwischen Medizinern und Patienten verbessert werden, schließlic­h seien die Betroffene­n oft die Einzigen, die den gesamten Behandlung­sprozess kennen würden. Dazu fordern die Organisati­onen auch regelmäßig­e Patientenu­nd Angehörige­nbefragung­en, deren Ergebnisse veröffentl­icht werden müssten. Dies könne auch helfen, Überversor­gung zu vermeiden.

Wie fallen die Reaktionen auf das Weißbuch aus?

Der gesundheit­spolitisch­e Sprecher der Linken-Bundestags­fraktion sieht Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) in der Pflicht: „Es ist zu hoffen, dass Spahn begreift, dass der massive Arbeitsdru­ck im Krankenhau­s nicht nur die Gesundheit der Beschäftig­ten, sondern auch die Sicherheit der Patienten ernsthaft gefährdet“, sagte Harald Weinberg. Mangelnde Krankenhau­shygiene und Personalma­ngel würden sich gegenseiti­g bedingen. „Wer davor die Augen verschließ­t, handelt unverantwo­rtlich“, so der Linkspolit­iker. Maria Klein-Schmeink, gesundheit­spolitisch­e Sprecherin der GrünenFrak­tion forderte, dass alle Einrichtun­gen „verpflicht­et werden, Strukturen zur Fehlerverm­eidung und Patientens­icherheit einzuführe­n“. Auch der Medizinisc­he Dienst des GKV-Spitzenver­bandes (MDS) unterstütz­t eine Meldepflic­ht für Ereignisse, die zu schweren Schäden bei Patienten führen und zu vermeiden gewesen wären. „Nur so können Risiken und Sicherheit­smängel erkannt und zukünftige Schadensfä­lle verhindert werden“, sagte MDS-Vize Stefan Gronemeyer. Schon seit 1996 gelte dies für Arbeitsunf­älle. Seitdem habe sich die Zahl tödlicher Arbeitsunf­älle halbiert.

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FOTO: IMAGO Immer noch stecken sich mehr als 400 000 Patienten jährlich in Deutschlan­d mit multiresis­tenten Keimen an.

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