Die Müllhalde des Gesundheitssystems
Zwischen Lappalien und Lebensgefahr, Ungeduld und Stress – Eine Spätschicht in der Zentralen Notaufnahme am Ostalb-Klinikum
„Meist beschweren sich diejenigen, die nichts in der Notaufnahme verloren haben.“Stefan Kühner, Chefarzt der Notaufnahme am Ostalb-Klinikum
„Wir können Krankenhäusern nicht mehr Geld geben, als Ärzten bezahlt wird.“Johannes Fechner von der Kassenärztlichen Vereinigung
Nach einer Stunde steht die Diagnose fest: infizierte Thrombose in der Halsvene. Nicht ungefährlich. Stefan Kühner, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme am Aalener Ostalb-Klinikum, zieht den Ultraschallkopf über den Hals des Patienten, dem das alles zu lange dauert. Er schimpft über die Wartezeit, schiebt es auf die Verwaltung. „Was Sie sagen, ärgert mich kolossal“, entgegnet Kühner, „das Warten auf Untersuchungsergebnisse dauert eben.“Es überzeugt den Mann wenig. Dass er stationär aufgenommen werden muss, scheint für ihn schlimmer zu sein als die Diagnose selbst. Bevor er das Krankenbett bezieht, will er nach Hause. Kühner schaut verdutzt, dem Mann steckt eine Kanüle in der Vene. „Ich bin Arzt und kein Anwalt. Wenn ich Sie mit einer Infusionskanüle im Arm gehen lasse und Sie nicht wiederkommen, muss ich Ihnen die Polizei hinterherschicken.“Der Mann nickt, bekommt einen Verband um die Kanüle und geht. Nörgelnde, genervte Patienten sind Routine in der Notaufnahme. Manche pöbeln oder werden gewalttätig.
Dieser Patient mittleren Alters ist eine Ausnahme, jedoch längst nicht der einzige, der sich über die Wartezeiten in der Notaufnahme mokiert. „Meist beschweren sich diejenigen, die nichts in der Notaufnahme verloren haben“, sagt Kühner und blättert durch einen Benchmarkingbericht von 16 Modellkliniken aus ganz Deutschland, der unter anderem Wartezeiten berücksichtigt. Durchschnittlich warten alle Patienten in Aalen 28 Minuten – ein hervorragender Wert. „Natürlich kann es sein, dass mancher vier bis fünf Stunden auf die Behandlung warten muss. Doch dann hat das Gründe“, sagt der Chefarzt. Hier in der Notaufnahme sei nichts planbar.
Ein Funkmelder piepst, die Leitstelle berichtet von fünf Verletzten, fordert einen Leitenden Notarzt an, der an der Unfallstelle nahe Ellwangen die Behandlung der Opfer koordiniert. „Fahr raus“, sagt Kühner zu Oberarzt Matthias Müller. Kühner schaut auf einen Monitor auf dem Flur, der den Unfall bereits anzeigt und den Zustand der Verletzten als kritisch bezeichnet. „Was genau auf uns zukommt, kann ich noch nicht sagen. Nur, dass später jemand eingeliefert wird“, sagt der Chefarzt und setzt sich hinter den Tresen neben Assistenzärztin Sarah Strauch. Tasten klackern, jede Behandlung muss dokumentiert sein, das dauert. „Bis zu 50 Prozent der Arbeitszeit ist Dokumentation. Doch die ist sehr wichtig“, sagt sie. Jedes nichtige Detail kann später relevant sein.
Röntgenbilder leuchten auf den Schirmen, müssen untersucht werden, während der Wartebereich voller Patienten sitzt. Ein Baby schreit. Alle 15 Behandlungsräume sind belegt. Ein Kind hat Bauchschmerzen, vielleicht ist es der Blinddarm. Gegenüber liegt ein Mann mit einem
kleinen Loch im Dialyseshunt (eine Verbindung zwischen Arterie und Vene, die an das Dialysegerät angeschlossen
wird, d. Red.), das Kühner vernäht. Am Ende des Flurs jammert es aus dem Zimmer.
Alltag in der Aalener Notaufnahme, wo jährlich mehr als 32 000 Patienten versorgt werden. Täglich kommen 90 Leute, „an Spitzentagen können es auch 130 sein“, sagt der Chefarzt. Für die Hälfte von ihnen habe seine Abteilung nicht mal einen Versorgungsauftrag – und trotzdem werden sie behandelt. Denn wohin sollen sich Patienten mit einem verstauchten Knöchel wenden, wenn der Hausarzt Feierabend und die Notfallpraxis geschlossen hat? An den ärztlichen Notdienst? „Der gipst ihnen den nicht ein, sondern schickt sie zu uns.“Husten, Schnupfen, Heiserkeit, Zecken, Grippe oder Fieber – hat der Hausarzt zu, landen auch Bagatellfälle in der Notaufnahme, was Oberarzt Müller wütend macht: „Wir sind die Müllhalde des Gesundheitssystems.“
Diese Versorgungslücke sei ein blinder Fleck im Sozialgesetzbuch, kritisiert er. Ein sehr teurer obendrein: Jede ambulante Notfallbehandlung koste rund 100 Euro, bezahlt werden von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) im Schnitt aber nur 35 Euro – als sei es eine Behandlung wie in einer normalen Arztpraxis. Sei es aber nicht, denn „wir müssen hier viel mehr vorhalten. Röntgen, Nahtmaterial, Personal und so weiter“, zählt Kühner auf. Am Ende dieser Rechnung steht die Notaufnahme in Aalen mit einem jährlichen Minus von rund einer Million Euro da, das der Landkreis auffängt.
„Krankenhäuser bekommen jeden Handgriff eins zu eins bezahlt“, erwidert Johannes Fechner, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg. Bei den 35 Euro handle es sich nur um einen Durchschnittsbetrag aller ambulant behandelten Fälle der Notaufnahmen im Land. 35 Euro hält er deshalb für gerecht, schließlich richte sich die Bezahlung nach der Gebührenordnung der Ärzte. „Wir können Krankenhäusern nicht mehr Geld geben, als Ärzten bezahlt wird“, sagt Fechner, der die Rechnung der Krankenhäuser allerdings nachvollziehen kann, die Vorhaltung für Personal, Material und Geräte einrechnen. „Wenn man die Notaufnahme als eigene Kostenstelle sieht, stimmt es.“Erst wenn der Gesetzgeber die Gebührenordnung erhöhe, könne die KV auch mehr für Arztleistungen zahlen.
Matthias Müller ist vom Unfall zurück und korrigiert die ursprüngliche Meldung. Drei Menschen wurden verletzt, er wies sie den Krankenhäusern Aalen, Ellwangen und Crailsheim zu, um nicht eine einzelne Notaufnahme zu sehr zu belasten. Gut eine Stunde war der Oberarzt nachmittags unterwegs – ehrenamtlich. Diese Zeit hängt er nun an seinen normalen Dienst im Krankenhaus an. Wenn er heute heimkomme, schläft sein Kind bereits. Man selbst und die Familie gewöhne sich irgendwann daran. „Man muss es mögen, in der Notaufnahme zu arbeiten“, ergänzt Kühner, denn es sei Arbeit am Limit, schlicht: Stress. Das Telefon in seiner Jackentasche klingelt, der Chefarzt muss gar nicht hinschauen: „Wir bekommen einen Schockraumpatienten.“Wer hierher gebracht wird, schwebt in Lebensgefahr.
Auf drei wuchten Ärzte und Pfleger den Mann auf die Liege. Der Patient ist ruhig, hat die Augen geschlossen. Gegen seine massiven Bauchschmerzen hat ihm der Notarzt Schmerzmittel gespritzt. „Wir müssen prüfen, ob es sich um ein Aneurysma an der Aorta handelt“, sagt Kühner. Der Notarzt diktiert die Vitalwerte, Kühner kritzelt sie auf die Papierdecke neben dem Patienten. Pfleger kleben EKG-Pads auf die Brust, Blut wird abgenommen. Keine Hektik, jeder kennt seine Handgriffe. Der Drucker des Ultraschalls spuckt Bilder aus – kein Aneurysma. Keine Lebensgefahr.
Etwas mehr als einmal am Tag wird ein Patient in den Schockraum eingeliefert. Zahlreiche Ärzte und Pfleger kämpfen hier um das Leben
# der Menschen, während sich draußen im Wartezimmer und den Behandlungsräumen Ungeduld breit macht. Wo bleibt der Arzt? Was dauert hier so lange? Meist bekommen die Pfleger den Ärger ab. „Wenn man den Leuten erklärt, warum sie warten müssen, verstehen es viele“, sagt Krankenpfleger Martin Kirschenmann. Doch das sind längst nicht alle. Einige Patienten werden unflätig – „Beleidigungen sind an der Tagesordnung“, erzählt Kirschenmann.
Wieder andere drohen Ärzten und Pflegern, die deshalb teilweise schon Angst hatten, nach Hause zu gehen. Ein Dilemma, das irgendwann eskaliert und die Polizei gerufen werden muss, wie es Müller schon einmal getan hat, als ihm ein Patient drohte, ihn umzubringen. „Und dann muss man sich samstags auf dem Markt Geschichten über die lange Wartezeit anhören“, klagt der Oberarzt.
Momentan kämpft die Notaufnahme bei der Klinikverwaltung um einen Sicherheitsdienst für die Nacht, die mittlerweile hereinbricht. Um 21 Uhr, gut fünf Stunden später, meldet sich der Mann mit der Thrombose im Hals und der Kanüle im Arm zurück. Kühner musste die Polizei nicht alarmieren. Heute jedenfalls nicht.