Gränzbote

Reise in die Unterwelt

Drama auf hoher See – Der Film „Styx“zeigt das Dilemma der Flüchtling­srettung in eindrucksv­ollen Bildern

- Von Rüdiger Suchsland

D● er Film beginnt mit Bildern von Affen. Es sind die Affen von Gibraltar, gewisserma­ßen dem Ende Europas. Es sind Affen, die in der Stadt leben, im Alltag der Menschen. Diese Affen gibt es wirklich, aber am Beginn dieses Films wirkt das alles auch besonders eindrucksv­oll. Wie ein Symbol, ein Bild des Chaos, der Anarchie und der Autonomie einer – schlechten, gefahrvoll­en – Natur, die sich inmitten des Menschlich­en wieder Bahn bricht. Man sieht damit schon zu Beginn eine Welt, die ein bisschen aus dem Lot ist, die sich in einer erkennbare­n Schieflage befindet, und in denen kleine Chaosstift­er hausen.

Von Gibraltar aus bricht die Hauptfigur des Films auf und beginnt ihr Abenteuer. Sie heißt Rike, eine nicht mehr ganz junge Frau und offenkundi­g eine erfahrene Seglerin – denn sie segelt allein, einsam auf dem Meer. Ihr Ziel ist es, nach Ascension-Island zu fahren, zu jener Atlantikin­sel, die am weitesten von allen vom Festland entfernt ist. So soll dies für sie auch eine Reise zum Glück werden, zur individuel­len Erfüllung.

Zunächst sind es großartige Bilder eines sonnenüber­fluteten Meeres, die Regisseur Wolfgang Fischer und sein Kameramann Benedikt Neuenfels zeigen, und der Film scheint sich zu einer stillen, existentia­listischen Meditation zu entwickeln, mit der Verheißung eines Naturparad­ieses am Horizont. Selbst als eines Nachts ein Sturm aufzieht, meistert Rike die Begegnung mit den Naturgewal­ten bravourös und unerschroc­ken und bleibt Herrin des Geschehens auf dem großen dunklen Meer.

Es ist etwas anderes, das diese Frau bis ins Mark erschütter­t: Am Morgen nach dem Sturm begegnet sie einem vollkommen überladene­n, manövrieru­nfähigen Schiff voller Menschen. Ein Flüchtling­sboot, das dringend Hilfe braucht. Über Funk wird ihr verboten, selbst einzugreif­en. Da sie im sonstigen Leben Notärztin ist, stößt sie hier ganz konkret auf den Konflikt zwischen der moralische­n Verpflicht­ung und der Achtung des Rechts, auch der pragmatisc­hen Einsicht, mit ihrem kleinen Boot gar nicht alle retten zu können. Aber einen vielleicht? Den Jungen, der es geschafft hat, zu ihrem Boot zu schwimmen, und den sie nicht abweisen konnte? Oder doch auch zwei, drei Menschen?

Im Mittelteil des Films erleben wir, wie Rike mit Kingsley (Gedion Oduor Wekesa), der es zu ihrem Boot geschafft hat, und sie bittet, den anderen zu helfen, kommunizie­rt. Man erinnert sich an die Geschichte von Robinson und Freitag – und tatsächlic­h ist dieser Film auch eine moderne Robinsonad­e, eine filmische Meditation über das Alleinsein und die intensive Begegnung zweier Welten.

„Styx“heißt der Totenfluss der griechisch­en Mythologie, der in der antiken Vorstellun­g die Lebenden von den Toten trennt. So ist diese poetische Geschichte des Abenteuers einer Ärztin, die als Alleinsegl­erin dem Grauen und ihren eigenen Abgründen begegnet, auch eine in phantastis­chen, kraftvolle­n Bildern grandios erzählte Höllenfahr­t, der Eintritt in eine Zwischenwe­lt, in der es keine Sicherheit­en mehr gibt.

Diese Welt ist unsere, und Fischer legt frei, was mit Europa geschieht, wenn es dem Chaos nicht mehr ausweichen kann. Wie Odysseus begegnet Rike dem Schrecken. Wie Odysseus ist sie neugierig, angetriebe­n von einem Willen zum Wissen, aber wie Odysseus – wenn der sich an den Mast fesseln lässt, um den Gesang der Sirenen zu hören, aber doch außer Gefahr zu bleiben – bleibt immer ein Stück Distanz, die sie nicht aufgeben kann und will.

Diese starke Frau steht für uns alle.

Styx: Regie Wolfgang Fischer. Mit Susanne Wolff, Gedion Oduor Wekesa. Deutschlan­d/Österreich 2018. 94 Minuten.

 ?? FOTO: VERLEIH ?? Aus einem Selbsterfa­hrungstrip wird eine Höllenfahr­t: Die Solosegler­in Rike (Susanne Wolff) trifft in „Styx“während eines einsamen Atlantiktö­rns auf ein überladene­s Flüchtling­sschiff.
FOTO: VERLEIH Aus einem Selbsterfa­hrungstrip wird eine Höllenfahr­t: Die Solosegler­in Rike (Susanne Wolff) trifft in „Styx“während eines einsamen Atlantiktö­rns auf ein überladene­s Flüchtling­sschiff.

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