Reise in die Unterwelt
Drama auf hoher See – Der Film „Styx“zeigt das Dilemma der Flüchtlingsrettung in eindrucksvollen Bildern
D● er Film beginnt mit Bildern von Affen. Es sind die Affen von Gibraltar, gewissermaßen dem Ende Europas. Es sind Affen, die in der Stadt leben, im Alltag der Menschen. Diese Affen gibt es wirklich, aber am Beginn dieses Films wirkt das alles auch besonders eindrucksvoll. Wie ein Symbol, ein Bild des Chaos, der Anarchie und der Autonomie einer – schlechten, gefahrvollen – Natur, die sich inmitten des Menschlichen wieder Bahn bricht. Man sieht damit schon zu Beginn eine Welt, die ein bisschen aus dem Lot ist, die sich in einer erkennbaren Schieflage befindet, und in denen kleine Chaosstifter hausen.
Von Gibraltar aus bricht die Hauptfigur des Films auf und beginnt ihr Abenteuer. Sie heißt Rike, eine nicht mehr ganz junge Frau und offenkundig eine erfahrene Seglerin – denn sie segelt allein, einsam auf dem Meer. Ihr Ziel ist es, nach Ascension-Island zu fahren, zu jener Atlantikinsel, die am weitesten von allen vom Festland entfernt ist. So soll dies für sie auch eine Reise zum Glück werden, zur individuellen Erfüllung.
Zunächst sind es großartige Bilder eines sonnenüberfluteten Meeres, die Regisseur Wolfgang Fischer und sein Kameramann Benedikt Neuenfels zeigen, und der Film scheint sich zu einer stillen, existentialistischen Meditation zu entwickeln, mit der Verheißung eines Naturparadieses am Horizont. Selbst als eines Nachts ein Sturm aufzieht, meistert Rike die Begegnung mit den Naturgewalten bravourös und unerschrocken und bleibt Herrin des Geschehens auf dem großen dunklen Meer.
Es ist etwas anderes, das diese Frau bis ins Mark erschüttert: Am Morgen nach dem Sturm begegnet sie einem vollkommen überladenen, manövrierunfähigen Schiff voller Menschen. Ein Flüchtlingsboot, das dringend Hilfe braucht. Über Funk wird ihr verboten, selbst einzugreifen. Da sie im sonstigen Leben Notärztin ist, stößt sie hier ganz konkret auf den Konflikt zwischen der moralischen Verpflichtung und der Achtung des Rechts, auch der pragmatischen Einsicht, mit ihrem kleinen Boot gar nicht alle retten zu können. Aber einen vielleicht? Den Jungen, der es geschafft hat, zu ihrem Boot zu schwimmen, und den sie nicht abweisen konnte? Oder doch auch zwei, drei Menschen?
Im Mittelteil des Films erleben wir, wie Rike mit Kingsley (Gedion Oduor Wekesa), der es zu ihrem Boot geschafft hat, und sie bittet, den anderen zu helfen, kommuniziert. Man erinnert sich an die Geschichte von Robinson und Freitag – und tatsächlich ist dieser Film auch eine moderne Robinsonade, eine filmische Meditation über das Alleinsein und die intensive Begegnung zweier Welten.
„Styx“heißt der Totenfluss der griechischen Mythologie, der in der antiken Vorstellung die Lebenden von den Toten trennt. So ist diese poetische Geschichte des Abenteuers einer Ärztin, die als Alleinseglerin dem Grauen und ihren eigenen Abgründen begegnet, auch eine in phantastischen, kraftvollen Bildern grandios erzählte Höllenfahrt, der Eintritt in eine Zwischenwelt, in der es keine Sicherheiten mehr gibt.
Diese Welt ist unsere, und Fischer legt frei, was mit Europa geschieht, wenn es dem Chaos nicht mehr ausweichen kann. Wie Odysseus begegnet Rike dem Schrecken. Wie Odysseus ist sie neugierig, angetrieben von einem Willen zum Wissen, aber wie Odysseus – wenn der sich an den Mast fesseln lässt, um den Gesang der Sirenen zu hören, aber doch außer Gefahr zu bleiben – bleibt immer ein Stück Distanz, die sie nicht aufgeben kann und will.
Diese starke Frau steht für uns alle.
Styx: Regie Wolfgang Fischer. Mit Susanne Wolff, Gedion Oduor Wekesa. Deutschland/Österreich 2018. 94 Minuten.