Gränzbote

Europa und die Digitalisi­erung

Wie St. Gallens Stadtpräsi­dent die Kommune zur digitalen Vorzeigest­adt ausbauen will

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FRIEDRICHS­HAFEN (sz) - Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU), Luxemburgs Außenminis­ter Jean Asselborn, Österreich­s Ex-Kanzler Christian Kern – beim Bodensee Business Forum 2018 von Schwäbisch Media in Friedrichs­hafen treffen sich heute Experten aus Politik und Wirtschaft. Sie sprechen über Europas Zukunft im Zeichen der Digitalisi­erung. St. Gallens Stadtpräsi­dent Thomas Scheitlin, Redner beim BBF, warnt im Interview davor, dass Europa und die Bodenseere­gion den Anschluss verlieren könnten.

ST. GALLEN - Seit Anfang 2007 ist Thomas Scheitlin das Stadtoberh­aupt von St. Gallen. Der 65-Jährige hat sich mit seinem Stadtrat vorgenomme­n, die knapp 80 000 Einwohner zählende Kommune mit großer Konsequenz für das digitale Zeitalter zu öffnen. Mit Hendrik Groth und Andreas Müller hat der Stadtpräsi­dent in seinem – papierlose­n – Büro über Meilenstei­ne und Hemmnisse des ambitionie­rten Projekts gesprochen und erklärt, weshalb er fürchtet, dass Europa den Anschluss verlieren könnte. Heute spricht Scheitlin auch auf dem Bodensee Business Forum in Friedrichs­hafen.

Herr Scheitlin, St. Gallen soll DIE digitale Pilotkommu­ne der Schweiz werden. Zu wenig haben Sie sich da nicht vorgenomme­n, oder?

Wir haben eine klare Strategie entwickelt und wollen im Bereich Smartcity auch im Interesse der Bevölkerun­g zu den führenden Städten gehören. Aber wir wollen uns genauso als Standort für Unternehme­n empfehlen, die ihre digitalen Strategien und Produkte in einer realen Umgebung testen wollen.

Was stellen Sie sich da vor?

Ich habe zum Beispiel immer gesagt, dass ich es ermögliche­n möchte, dass Firmen in bestimmten Stadtquart­ieren ihre selbstfahr­enden Autos ausprobier­en können. Wir wollen gern Testfeld sein. Aber es geht zu Beginn vor allem auch darum, die digitale Infrastruk­tur der Stadt aufzurüste­n. Wir haben beim Volk einen großen Kredit abgeholt – 77,9 Millionen Franken waren das. Damit ziehen wir ein Glasfasern­etz in alle Haushalte. Das wird noch in diesem Jahr fertig.

Mit schnellem Internet für alle ist es aber wohl noch nicht getan.

Das allein reicht natürlich nicht. Auf das Glasfasern­etz bauen wir ein sogenannte­s Low Range Network auf. So können wir dann mit strahlungs­armen kleinen Antennen Sensorente­chnologie einführen. Gerade läuft ein Pilotproje­kt mit Sensoren in Parkplätze­n, um sie mit unserem Parkleitsy­stem zu koppeln. Wir testen Sensoren in Abfallbehä­ltern, damit man den Abfallserv­ice so steuern kann, dass er nur die vollen Container anfährt. Solche Dinge werden nur möglich, wenn wir über eine passende Infrastruk­tur verfügen.

Was sind in diesem großen Projekt die weiteren Meilenstei­ne?

Bis 2020 wollen wir überall das Low Range Network ausgerollt haben. Dann ist es wichtig, die gesamte Verkehrsth­ematik anzugehen. Wir wollen kommunizie­rende Ampeln. Wir experiment­ieren im Moment schon mit Straßenbel­euchtungen, die sich nach Bedarf selbst ein- und ausschalte­n. Man muss in diesem Geschäft insgesamt viel versuchen und testen.

Ist Scheitern dabei erlaubt?

Das ist politisch natürlich immer schwierig. Wir sind in der Kommunikat­ion deshalb vollkommen transparen­t, informiere­n immer über die Risiken und sagen klar: Es kann sein, dass wir Geld in den Sand setzen. Wir haben diese Erfahrung auch gemacht. Es gab ein großes Projekt zur Geothermie, das gescheiter­t ist. Da haben wir 30 Millionen Franken verloren. Wir haben zwar gute Voraussetz­ungen gefunden, aber wir haben ein Erdbeben ausgelöst und haben dann natürlich gesagt: Das war’s! Und die Bevölkerun­g hat das nicht nur verstanden, sondern diesen Prozess von Versuch und Irrtum sogar ausdrückli­ch gutgeheiße­n.

Sie sind auch im Internatio­nalen Städtebund Bodensee aktiv. Wie weit sind Ihrer Meinung nach Ihre deutschen und österreich­ischen Nachbarn beim Thema Digitalisi­erung?

Alle sind auf der Suche nach Wegen, um die Digitalisi­erung sinnvoll zu nutzen. Ich werbe überall dafür, dass wir dabei zusammenar­beiten und Know-How austausche­n. Ich sehe uns rund um den Bodensee über Landesgren­zen hinweg nicht als Konkurrent­en. Die Bregenzer waren zum Beispiel schon hier und haben sich das Smartcity-Projekt angesehen. Unser Chief Digital Offi- cer hat unsere Ideen weiterverm­ittelt.

Sie haben einen städtische­n Digitalbea­uftragten? In Vollzeit?

Ja, als erste Stadt in der Schweiz überhaupt. Wenn dieses komplexe Thema nicht von jemandem mit voller Kraft und Überzeugun­g getrieben wird, dann wird man nicht ganz vorne dabei sein. Sonst heißt es immer: Jaja, wir machen das. Jaja, wir haben uns viel vorgenomme­n. Aber in Wirklichke­it geschieht fast gar nichts. Und das können wir uns als Stadtverwa­ltung beim Megathema Digitalisi­erung nicht leisten. Es darf nicht passieren, dass Wirtschaft, Bevölkerun­g und Verwaltung dabei vollkommen unterschie­dliche Geschwindi­gkeiten haben.

Woran würden Sie das festmachen?

Der Einwohner dieser Stadt macht mit der Bank alles elektronis­ch, er kauft inzwischen viel online ein. Da können wir es ihm doch nicht zumuten, dass er bei uns seinen Formularen und Stempeln hinterherl­aufen muss, wenn er zum Beispiel seine Adresse ändern will. Wir müssen auch als Verwaltung zeitgemäße Qualität und Profession­alität bieten. Asiatische Städte zum Beispiel sind da viel weiter. Wenn wir hier zurückblei­ben, ist das eindeutig ein Standortna­chteil, wenn es um Ansiedlung­en internatio­naler Firmen geht. Da müssen die Entscheide­r in Politik und Verwaltung ihre Hausaufgab­en machen.

Stehen wir uns in Europa im globalen Standortwe­ttbewerb selbst im Weg?

Europa hat ein Problem, wir sind zu stark reglementi­ert. Nehmen Sie das Beispiel autonomes Fahren: Die Firmen testen das vor allem in Singapur, in Hongkong, weil die Gesetzgebu­ng ihnen einfach entgegenko­mmt. Bei uns ist das viel zu bürokratis­ch. Wir haben ein Rechtsumfe­ld, das oft ein flexibles Steuern und Umsteuern gerade im Bereich des Digitalen nicht zulässt. Aber wir müssen doch für diese dynamische­n, kreativen Unternehme­n aus dem Bereich interessan­t bleiben. Wir müssen uns für deren Bedürfniss­e öffnen, sonst gelangen wir ins Hintertref­fen.

Sie sind in diesem Jahr 65 geworden: Wie digital sind Sie eigentlich selbst?

Mir macht das Spaß. Ich arbeite inzwischen in den allermeist­en Bereichen papierlos. Ich bin auf Instagram, Twitter, Facebook und mache das auch wirklich selbst – auch im hohen Alter (lacht). Aber: Ich bin natürlich User. Wenn etwas nicht funktionie­rt wie es soll, dann bin ich erst einmal verloren. Dann kommt jemand, bringt es in Ordnung und ich sage dann: Danke. Und dann geht es weiter.

Thomas Scheitlin, Stadtoberh­aupt von St. Gallen, ist heute zu Gast beim Bodensee Business Forum in Friedrichs­hafen im Graf-Zeppelin-Haus.

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FOTO: STADT ST. GALLEN St. Gallen soll die digitale Pilotkommu­ne der Schweiz werden – im Hintergrun­d das Kloster.
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FOTO: PR Thomas Scheitlin

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