Luftholen nach dem Erdbeben
Erleichterung über 37 Prozent? Das ist die neue Realität in der CSU – Eindrücke von einem historischen Wahlabend
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MÜNCHEN - Wenn es eine Quintessenz gibt aus diesem Abend, dann steckt sie wohl in diesem Satz. Markus Söder sagt ihn leise, am Ende seiner Rede, fast rutscht er ihm heraus. Der Ministerpräsident Bayerns und Spitzenkandidat der einstigen 50plus-X-Partei steht um 18.15 Uhr an diesem historischen Wahltag vor seiner Landtagsfraktion und sagt: „Wenn Sie die Zahlen woanders anschauen, ist das in der Relation ein beachtliches Ergebnis.“Söder meint: 35 Prozent für die CSU, so lautet das Ergebnis der ersten Prognose – das ist doch gar nicht so schlecht. Am Ende des Abends krabbelt die CSU in den Hochrechnungen auf 37 Prozent. Die CSU-Abgeordneten nehmen den Satz regungslos hin. Als Söder gerade hinausgegangen ist aus dem Saal, ruft ein Landsmann von ihm in sanftem Fränkisch zu einem anderen Parteifreund: „Wir sind mit einem blauen Auge rausgegangen letzten Endes!“Er sagt es wie einen ganz normalen Satz. Als wäre das hier eine normale Wahl.
Dabei ist es ein politisches Erdbeben. Die CSU verliert etwa zehn Prozentpunkte zur Wahl 2013. Rund 18 Prozent für die Grünen. Die AfD bekommt etwas mehr als zehn Prozent bei ihrer ersten bayerischen Landtagswahl. Dahinter die Freien Wähler (FW) mit knapp zwölf Prozent, die SPD unter zehn Prozent, die FDP zittert am Rande der Fünfprozenthürde. Und die Linken, die mit etwa drei Prozent den Einzug in den Landtag verpassen. Die Grünen schwingen sich auf zur Oppositionsführerschaft im Freistaat. Die AfD zertrümmert endgültig den Lehrsatz der CSU-Legende Franz Josef Strauß, nach der es keine politische Partei rechts der CSU geben dürfe – aber sie ist weniger erfolgreich, als von vielen vorhergesagt. Sechs Parteien statt bisher vier sitzen künftig im Landtag. Vor allem aber gehen Jahrzehnte politischer Dominanz der CSU heute zu Ende.
Die Landtagswahl war für die Christsozialen immer die Mutter aller Abstimmungen. Die sagenhaften Ergebnisse im Heimatland, die absolute Regierungsmehrheit im Landtag: Das war das steinharte Fundament, auf dem die Partei ihre Sonderrolle aufgebaut hat. Die CSU war seit den 1950er-Jahren eine Regionalpartei, die nur in Bayern auf dem Wahlzettel steht – aber sie war oft auf Bundesebene durchsetzungsstärker als alle 15 Landesverbände der Schwesterpartei CDU zusammen. Es war diese Sonderrolle der CSU, die Vertreter anderer Parteien so neidisch wie wütend gemacht hat. Bayern = CSU, politisch gesehen war jahrzehntelang viel dran an dieser Gleichung. Und dass sie gestimmt hat, war immer auch eine Erklärung für die Mischung aus Anerkennung und Argwohn, mit der in anderen Bundesländern auf Bayern geschaut wurde.
Die Sonderrolle der CSU, der politische Sonderfall Bayern: Gehört das seit diesem Sonntagabend alles in die Vergangenheitsform?
Das Interesse an dieser Wahl ist in Bayern beeindruckend. 72,5 Prozent der wahlberechtigten Bürger haben ihre Stimme abgegeben, das sind knapp zehn Prozent mehr als bei der Wahl vor fünf Jahren. Es ist der höchste Wert seit 1982. Das Interesse daran ist aber auch weltweit enorm. Über 1000 Journalisten haben sich für die Wahlnacht im Landtag akkreditiert. Ein „historischer Wahlabend“sei das, sagt ein französischer Fernsehkorrespondent um die Mittagszeit. Der Mann steht im Plenarsaal des Landtags, wo heute Dutzende Journalisten ihren Arbeitsplatz haben. Vom arabischsprachigen Nachrichtensender Al Jazeera sitzt ein Team hier, ein Reporter der japanischen Wirtschaftszeitung „Nikkei“, kleinere Landsmannschaften aus Italien und Frankreich sowieso. „14 Prozent“könnte die CSU verlieren – die Wörter schmettert der TV-Reporter aus Frankreich silbenweise in die Kameras. Er hat recht. Während er das sagt, läuft über ihm, auf einem der drei Fernsehbildschirme im Atrium des Landtags, im Bayerischen Fernsehen der Westernfilm „Freddy und das Lied der Prärie“von 1964 mit Freddy Quinn. Seit Filme wie dieser in den Kinos liefen, hat die CSU in Bayern immer mehr als 40 Prozent der Stimmen geholt. Und sie hat fast immer alleine regiert, mit Ausnahme der Jahre von 2008 bis 2013.
Keine Regierung ohne CSU
Als im schwül-heißen Saal der CSUFraktion die erste Prognose auf dem Bildschirm erscheint, ist es ruhig. Kein Seufzen, kein Aufschrei. Wenig später klatschen einige CSU-Anhänger sogar, einzelne jubeln. Dreimal passiert das: als feststeht, dass die Linken den Einzug in den Landtag verpassen. Als das AfD-Ergebnis auf der Leinwand erscheint – elf Prozent, deutlich weniger als in Baden-Württemberg und anderen Bundesländern. Und als die erste Grafik zur Sitzverteilung erscheint und deutlich scheint: Ohne CSU gibt es keine Regierung. Die CSU-Anhänger sind nicht mehr entsetzt, sie sind erleichtert. Markus Söder tritt ans Pult, die Anhänger applaudieren höflich-bestimmt. Söders Gesichtsausdruck: eine Mischung aus Lächeln und Sorgenfalten. „Wir werden jetzt analysieren müssen, wie sich unser Land verändert hat“, sagt Söder, ruhig und leise. Die Hauptaufgabe sei es jetzt, eine stabile Regierung zu bilden. Und ja, er werde weiter die Landesregierung führen – „wenn Partei und Fraktion das wollen“.
Dass es bald vorbei sein würde mit der CSU-Herrlichkeit, haben sie in der Partei ja lange schon geahnt, spätestens seit der Bundestagswahl im September 2017. Eine CDU-Kanzlerin Angela Merkel, die – ganz anders noch als bei der Wahl 2013 – nicht mehr als konservative Integrationsfigur taugt. Und das Verhältnis zwischen Ministerpräsident Markus Söder und CSU-Chef Horst Seehofer schwierig zu nennen, wäre eine aberwitzige Untertreibung. Zwei maximal unterschiedliche Gegner haben die CSU erfolgreich in die Zange genommen: die Grünen und die AfD.
Katastrophe in Zeitlupe
Jetzt ist es schlimmer gekommen, als die Parteispitze noch im Hochsommer hoffen durfte. Ja, es ist für die Christsozialen eine Katastrophe – aber eine, in die sie in Zeitlupe hineingeschlittert sind. Und immerhin weniger verheerend, als es in den Tagen vor der Wahl schien. 37 Prozent, nicht 33. Das ist doch schon was.
Bei den Grünen, ein paar Meter weiter, sind sie ganz anders drauf. Jubelschreie, Umarmungen. Und Spitzenkandidatin Katharina Schulze, die auf die Bühne tritt und nicht spricht, sondern brüllt, vor Freude. „Danke für ein historisches Ergebnis!“Weiter hinten im Saal steht Claudia Roth, Grünen-Urgestein – Ikone für die einen, Reizfigur für die anderen. Sie strahlt über das ganze Gesicht. Als Claudia Roth 1987 den Grünen beitrat, da war die Partei ein Bürgerschreck – eine Partei am linken Rand, vor allem in Bayern. Jetzt ist sie zweitstärkste Kraft. Da, wo die SPD in Bayern jahrzehntelang war.
Die Sozialdemokraten haben sich die kräftigste Watschen von allen gefangen. Neunkommairgendwas Prozent, noch viel schlimmer, als die desaströsen Umfragewerte es befürchten ließen. Im Saal der Fraktion steht Spitzenkandidatin Natascha Kohnen am Pult, neben ihr der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter, Juso-Chefin Johanna Uekermann und der Nürnberger Bundestagsabgeordnete Martin Burkert. Ihre Gesichtszüge sind wie tiefgefroren, im Saal darunter herrscht Stille. „Das ist ein echter Tiefschlag“, sagt Kohnen. Und: „Das tut weh, das tut echt weh.“Der Applaus ist beherzt, aber leise. Die Sozialdemokraten sind in Bayern zur Kleinpartei geschrumpft, wie verbrüderte Parteien in Frankreich und Griechenland.
Nebenan, bei den Freien Wählern, steht Hubert Aiwanger am Pult. Er hat reichlich Grund zur Freude. Die Ländlich-Konservativen haben ein starkes Ergebnis eingefahren, wohl noch besser als ihre bisherige Bestmarke aus dem Jahr 2008, 10,2 Prozent waren es damals. Aber damals hat die CSU nach der Wahl ohne sie regiert. Jetzt geht das wohl nicht mehr. Das weiß Aiwanger – und das genießt er hörbar. Er dehnt die tief niederbayerisch gefärbten Wörter noch mehr als sonst. Er sagt, dass er bereit stehe für Koalitionsverhandlungen mit der CSU – und verknüpft das gleich mit Forderungen: eine Stärkung des ländlichen Raums; ein schnelles Internet in jedem Dorf; weniger Bürokratie und mehr Direktvermarktung für Landwirte; ein klares Bekenntnis zum christlichen Abendland und zur christlichen Kultur.
Söder flirtet mit Freien Wählern
Wenige Minuten vorher hat Markus Söder nebenan schon heftig geflirtet, in Richtung der Freien Wähler. „Meine Priorität ist ein stabiles bürgerliches Bündnis“, hat Söder gesagt. Es ist ein Satz, wie ihn konservative Spitzenkandidaten in Deutschland oft nach Wahlen sagen.
Ein CSU-Ministerpräsident aber hat so etwas jahrzehntelang nie sagen müssen.