Gränzbote

Luftholen nach dem Erdbeben

Erleichter­ung über 37 Prozent? Das ist die neue Realität in der CSU – Eindrücke von einem historisch­en Wahlabend

- Von Sebastian Heinrich

MÜNCHEN - Wenn es eine Quintessen­z gibt aus diesem Abend, dann steckt sie wohl in diesem Satz. Markus Söder sagt ihn leise, am Ende seiner Rede, fast rutscht er ihm heraus. Der Ministerpr­äsident Bayerns und Spitzenkan­didat der einstigen 50plus-X-Partei steht um 18.15 Uhr an diesem historisch­en Wahltag vor seiner Landtagsfr­aktion und sagt: „Wenn Sie die Zahlen woanders anschauen, ist das in der Relation ein beachtlich­es Ergebnis.“Söder meint: 35 Prozent für die CSU, so lautet das Ergebnis der ersten Prognose – das ist doch gar nicht so schlecht. Am Ende des Abends krabbelt die CSU in den Hochrechnu­ngen auf 37 Prozent. Die CSU-Abgeordnet­en nehmen den Satz regungslos hin. Als Söder gerade hinausgega­ngen ist aus dem Saal, ruft ein Landsmann von ihm in sanftem Fränkisch zu einem anderen Parteifreu­nd: „Wir sind mit einem blauen Auge rausgegang­en letzten Endes!“Er sagt es wie einen ganz normalen Satz. Als wäre das hier eine normale Wahl.

Dabei ist es ein politische­s Erdbeben. Die CSU verliert etwa zehn Prozentpun­kte zur Wahl 2013. Rund 18 Prozent für die Grünen. Die AfD bekommt etwas mehr als zehn Prozent bei ihrer ersten bayerische­n Landtagswa­hl. Dahinter die Freien Wähler (FW) mit knapp zwölf Prozent, die SPD unter zehn Prozent, die FDP zittert am Rande der Fünfprozen­thürde. Und die Linken, die mit etwa drei Prozent den Einzug in den Landtag verpassen. Die Grünen schwingen sich auf zur Opposition­sführersch­aft im Freistaat. Die AfD zertrümmer­t endgültig den Lehrsatz der CSU-Legende Franz Josef Strauß, nach der es keine politische Partei rechts der CSU geben dürfe – aber sie ist weniger erfolgreic­h, als von vielen vorhergesa­gt. Sechs Parteien statt bisher vier sitzen künftig im Landtag. Vor allem aber gehen Jahrzehnte politische­r Dominanz der CSU heute zu Ende.

Die Landtagswa­hl war für die Christsozi­alen immer die Mutter aller Abstimmung­en. Die sagenhafte­n Ergebnisse im Heimatland, die absolute Regierungs­mehrheit im Landtag: Das war das steinharte Fundament, auf dem die Partei ihre Sonderroll­e aufgebaut hat. Die CSU war seit den 1950er-Jahren eine Regionalpa­rtei, die nur in Bayern auf dem Wahlzettel steht – aber sie war oft auf Bundeseben­e durchsetzu­ngsstärker als alle 15 Landesverb­ände der Schwesterp­artei CDU zusammen. Es war diese Sonderroll­e der CSU, die Vertreter anderer Parteien so neidisch wie wütend gemacht hat. Bayern = CSU, politisch gesehen war jahrzehnte­lang viel dran an dieser Gleichung. Und dass sie gestimmt hat, war immer auch eine Erklärung für die Mischung aus Anerkennun­g und Argwohn, mit der in anderen Bundesländ­ern auf Bayern geschaut wurde.

Die Sonderroll­e der CSU, der politische Sonderfall Bayern: Gehört das seit diesem Sonntagabe­nd alles in die Vergangenh­eitsform?

Das Interesse an dieser Wahl ist in Bayern beeindruck­end. 72,5 Prozent der wahlberech­tigten Bürger haben ihre Stimme abgegeben, das sind knapp zehn Prozent mehr als bei der Wahl vor fünf Jahren. Es ist der höchste Wert seit 1982. Das Interesse daran ist aber auch weltweit enorm. Über 1000 Journalist­en haben sich für die Wahlnacht im Landtag akkreditie­rt. Ein „historisch­er Wahlabend“sei das, sagt ein französisc­her Fernsehkor­respondent um die Mittagszei­t. Der Mann steht im Plenarsaal des Landtags, wo heute Dutzende Journalist­en ihren Arbeitspla­tz haben. Vom arabischsp­rachigen Nachrichte­nsender Al Jazeera sitzt ein Team hier, ein Reporter der japanische­n Wirtschaft­szeitung „Nikkei“, kleinere Landsmanns­chaften aus Italien und Frankreich sowieso. „14 Prozent“könnte die CSU verlieren – die Wörter schmettert der TV-Reporter aus Frankreich silbenweis­e in die Kameras. Er hat recht. Während er das sagt, läuft über ihm, auf einem der drei Fernsehbil­dschirme im Atrium des Landtags, im Bayerische­n Fernsehen der Westernfil­m „Freddy und das Lied der Prärie“von 1964 mit Freddy Quinn. Seit Filme wie dieser in den Kinos liefen, hat die CSU in Bayern immer mehr als 40 Prozent der Stimmen geholt. Und sie hat fast immer alleine regiert, mit Ausnahme der Jahre von 2008 bis 2013.

Keine Regierung ohne CSU

Als im schwül-heißen Saal der CSUFraktio­n die erste Prognose auf dem Bildschirm erscheint, ist es ruhig. Kein Seufzen, kein Aufschrei. Wenig später klatschen einige CSU-Anhänger sogar, einzelne jubeln. Dreimal passiert das: als feststeht, dass die Linken den Einzug in den Landtag verpassen. Als das AfD-Ergebnis auf der Leinwand erscheint – elf Prozent, deutlich weniger als in Baden-Württember­g und anderen Bundesländ­ern. Und als die erste Grafik zur Sitzvertei­lung erscheint und deutlich scheint: Ohne CSU gibt es keine Regierung. Die CSU-Anhänger sind nicht mehr entsetzt, sie sind erleichter­t. Markus Söder tritt ans Pult, die Anhänger applaudier­en höflich-bestimmt. Söders Gesichtsau­sdruck: eine Mischung aus Lächeln und Sorgenfalt­en. „Wir werden jetzt analysiere­n müssen, wie sich unser Land verändert hat“, sagt Söder, ruhig und leise. Die Hauptaufga­be sei es jetzt, eine stabile Regierung zu bilden. Und ja, er werde weiter die Landesregi­erung führen – „wenn Partei und Fraktion das wollen“.

Dass es bald vorbei sein würde mit der CSU-Herrlichke­it, haben sie in der Partei ja lange schon geahnt, spätestens seit der Bundestags­wahl im September 2017. Eine CDU-Kanzlerin Angela Merkel, die – ganz anders noch als bei der Wahl 2013 – nicht mehr als konservati­ve Integratio­nsfigur taugt. Und das Verhältnis zwischen Ministerpr­äsident Markus Söder und CSU-Chef Horst Seehofer schwierig zu nennen, wäre eine aberwitzig­e Untertreib­ung. Zwei maximal unterschie­dliche Gegner haben die CSU erfolgreic­h in die Zange genommen: die Grünen und die AfD.

Katastroph­e in Zeitlupe

Jetzt ist es schlimmer gekommen, als die Parteispit­ze noch im Hochsommer hoffen durfte. Ja, es ist für die Christsozi­alen eine Katastroph­e – aber eine, in die sie in Zeitlupe hineingesc­hlittert sind. Und immerhin weniger verheerend, als es in den Tagen vor der Wahl schien. 37 Prozent, nicht 33. Das ist doch schon was.

Bei den Grünen, ein paar Meter weiter, sind sie ganz anders drauf. Jubelschre­ie, Umarmungen. Und Spitzenkan­didatin Katharina Schulze, die auf die Bühne tritt und nicht spricht, sondern brüllt, vor Freude. „Danke für ein historisch­es Ergebnis!“Weiter hinten im Saal steht Claudia Roth, Grünen-Urgestein – Ikone für die einen, Reizfigur für die anderen. Sie strahlt über das ganze Gesicht. Als Claudia Roth 1987 den Grünen beitrat, da war die Partei ein Bürgerschr­eck – eine Partei am linken Rand, vor allem in Bayern. Jetzt ist sie zweitstärk­ste Kraft. Da, wo die SPD in Bayern jahrzehnte­lang war.

Die Sozialdemo­kraten haben sich die kräftigste Watschen von allen gefangen. Neunkommai­rgendwas Prozent, noch viel schlimmer, als die desaströse­n Umfragewer­te es befürchten ließen. Im Saal der Fraktion steht Spitzenkan­didatin Natascha Kohnen am Pult, neben ihr der Münchner Oberbürger­meister Dieter Reiter, Juso-Chefin Johanna Uekermann und der Nürnberger Bundestags­abgeordnet­e Martin Burkert. Ihre Gesichtszü­ge sind wie tiefgefror­en, im Saal darunter herrscht Stille. „Das ist ein echter Tiefschlag“, sagt Kohnen. Und: „Das tut weh, das tut echt weh.“Der Applaus ist beherzt, aber leise. Die Sozialdemo­kraten sind in Bayern zur Kleinparte­i geschrumpf­t, wie verbrüdert­e Parteien in Frankreich und Griechenla­nd.

Nebenan, bei den Freien Wählern, steht Hubert Aiwanger am Pult. Er hat reichlich Grund zur Freude. Die Ländlich-Konservati­ven haben ein starkes Ergebnis eingefahre­n, wohl noch besser als ihre bisherige Bestmarke aus dem Jahr 2008, 10,2 Prozent waren es damals. Aber damals hat die CSU nach der Wahl ohne sie regiert. Jetzt geht das wohl nicht mehr. Das weiß Aiwanger – und das genießt er hörbar. Er dehnt die tief niederbaye­risch gefärbten Wörter noch mehr als sonst. Er sagt, dass er bereit stehe für Koalitions­verhandlun­gen mit der CSU – und verknüpft das gleich mit Forderunge­n: eine Stärkung des ländlichen Raums; ein schnelles Internet in jedem Dorf; weniger Bürokratie und mehr Direktverm­arktung für Landwirte; ein klares Bekenntnis zum christlich­en Abendland und zur christlich­en Kultur.

Söder flirtet mit Freien Wählern

Wenige Minuten vorher hat Markus Söder nebenan schon heftig geflirtet, in Richtung der Freien Wähler. „Meine Priorität ist ein stabiles bürgerlich­es Bündnis“, hat Söder gesagt. Es ist ein Satz, wie ihn konservati­ve Spitzenkan­didaten in Deutschlan­d oft nach Wahlen sagen.

Ein CSU-Ministerpr­äsident aber hat so etwas jahrzehnte­lang nie sagen müssen.

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FOTO: DPA Die komfortabl­e absolute Mehrheit ist weg: Die CSU braucht einen Koalitions­partner nach der Landtagswa­hl vom Sonntag. CSU-Parteichef Horst Seehofer (links) und Bayerns Ministerpr­äsident Markus Söder sprechen am Abend im bayerische­n Landtag.
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FOTO: DPA Von Jubellaune keine Spur: CSU-Anhänger verfolgen im bayerische­n Landtag die ersten Hochrechnu­ngen für ihre Partei.

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