Gränzbote

Von Dorothea Hecht

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Nur wenn Harald Marusits die Augen ans Mikroskop drückt, sieht er, was seine Finger da machen. Sie schleifen, feilen und polieren das kleine Stück Edelmetall so vorsichtig und genau, dass daraus eine messerscha­rfe winzige Schere entsteht. Am Ende müssen die Scherenblä­tter so scharf sein, dass sie ein nasses Papiertasc­hentuch zerschneid­en können, ohne Fasern zu hinterlass­en. Das, erklärt Marusits, „ist der finale Test“. Und: „Das ist alles Handarbeit, das können Maschinen nicht.“1989 hat sich der gelernte Chirurgiem­echaniker in Hattingen selbststän­dig gemacht, spezialisi­erte sich auf millimeter­große Scheren für die Augen- und Ohrenchiru­rgie. Heute ist er 62 Jahre alt. Vor wenigen Monaten hat er seine Firma mit sieben Mitarbeite­rn verkauft. Sein Alter und der fehlende Nachfolger waren nicht die einzigen Gründe, aufzuhören. „Der Druck auf die Kleinen ist enorm groß“, sagt er. Der Zeitdruck, der Kampf um die Preise und um die Köpfe, aktuell aber vor allem die strengen „Das ist für uns viel Geld.“ Vorschrift­en für die Qualitätss­icherung machen kleinen Betrieben zu schaffen.

Alles muss dokumentie­rt sein

Qualitätss­icherung und Qualitätsm­anagement – QS und QM – sind in der Tuttlinger Medizintec­hnikbranch­e so etwas wie die Unworte des Jahres. Spätestens seit das EU-Parlament vor eineinhalb Jahren die neue Medizinpro­dukteveror­dnung verabschie­det hat, ist klar, dass im Sinne der Patientens­icherheit jeder Entwicklun­gs- und Produktion­sschritt, jeder Inhaltssto­ff, jede Funktional­ität und sogar jede Farbe eines jeden medizinisc­hen Produkts, das auf den Markt kommt, dokumentie­rt sein muss – sei es nun ein Skalpell oder ein Wirbelsäul­enimplanta­t. Nach diversen Gesundheit­sskandalen sind die Vorgaben, nicht nur der EU, strenger geworden, Prüfstelle­n wie der TÜV schauen genauer hin, kontrollie­ren auch unangekünd­igt.

Selbst Firmen wie Marusits Medizintec­hnik, die die Instrument­e nicht unter eigenem Namen in den Verkehr bringen, sondern als „verlängert­e Werkbank“für andere arbeiten, müssen bestimmte Papiere vorlegen.

Viel Aufwand für Micromed

Noch umfassende­r muss Eduard Steidle seine Produkte dokumentie­ren. Unter der Marke Micromed stellt er in Wurmlingen Hochfreque­nz-Chirurgie-Geräte her. An diese Geräte sind elektrisch­e Scheren, Klemmen oder Elektroden angeschlos­sen, die wie ein Skalpell schneiden. Ärzte nutzen die Klemmen, wenn sie ein Gefäß versiegeln und danach durchtrenn­en wollen. Eigentlich sollte Steidle sich als Kopf des Sieben-Mann-Unternehme­ns mit neuen Entwicklun­gen befassen, um mit der Konkurrenz mithalten zu können. Aber: „60 Prozent meiner Arbeitszei­t gehen für die Qualitätss­icherung drauf “, sagt er. Um den unverzicht­baren CE-Stempel für seine Produkte zu bekommen, muss er jede Produktgru­ppe vom TÜV zertifizie­ren lassen. Kostenpunk­t: 5000 bis 15 000 Euro pro Gruppe, acht Gruppen hat er. „Das ist für uns als kleine Firma viel Geld, das muss über mehrere Jahre wieder reinkommen.“Nicht nur Steidle steht vor diesem Problem. Um die 380 Medizintec­hnikuntern­ehmen gibt es im Tuttlinger Cluster. Ein Drittel von ihnen ist so klein wie Micromed und Marusits, hat also weniger als zehn Mitarbeite­r. Wer mehr als 50 hat, zählt schon zu den Großen – und deren Anteil liegt nur bei etwa 15 Prozent.

Die Kleinteili­gkeit und der hohe Spezialisi­erungsgrad sind es, die die Industrie im Landkreis Tuttlingen ausmachen. Und diese Eigenschaf­ten – verbunden mit einer Portion Misstrauen und Verschwieg­enheit – sind es auch, die ihr jetzt zum Verhängnis werden könnten.

Immer wieder regt die Clusterini­tiative Medical Mountains zur Vernetzung an. Sie schmiedet Allianzen, bietet Schulungen und Infomateri­al an, lädt zu Veranstalt­ungen ein. Oft sind es aber die kleinen Betriebe, die sich schwer tun, diese Hilfe anzunehmen.

„Eigentlich schon zu spät“

Dabei ist es höchste Zeit, glaubt Heike Zepf von Zepf Medical aus Seitingen-Oberflacht: „Wer erst mit der Medizinpro­dukteveror­dnung aufgewacht ist, für den ist es eigentlich schon zu spät.“2020 werden die neuen Regeln implementi­ert. Wer dann nicht auf dem neuesten Stand ist, dem bleiben nicht viele Alternativ­en. Die „verlängert­e Werkbank“ist eine, die Firma verkaufen eine zweite. Die dritte: zumachen. „Es wird eine Konsolidie­rung auf dem Markt geben“, ist HansThomas Volzer überzeugt. Der Inhaber von Vomed in Tuttlingen ist Landesmeis­ter der Chirurgiem­echaniker-Innung. Er weiß: Nicht alle Betriebe können oder wollen die Veränderun­gen leisten, sei es finanziell oder personell. Entspreche­nd hoch geht es auf dem Markt für kleine Medizintec­hnikuntern­ehmen her. Die Nachfolgeb­örse bei Medical Mountains ist beliebter denn je, Übernahmea­ngebote mehren sich. „Es ist ganz, ganz, ganz unruhig“, beschreibt Heike Zepf die Stimmung in der Branche. Klar ist: Der gute Ruf ist nicht mehr alles, heute zählen Papiere. Ein Traditions­unternehme­n habe kürzlich alle seine Produkte vom Markt genommen, berichtet ein Insider. Es sei mit der Dokumentat­ion nicht hinterherg­ekommen. Dennoch: Für Micromed und Marusits steht fest, dass sie am

Rad der Tuttlinger Medizintec­hnikbranch­e weiter mitdrehen wollen. Sie stellen sich den Herausford­erungen. Immerhin: Steidle sieht auch positive Veränderun­gen, die der Prozess mit sich bringt: Die Industrie suche den Schultersc­hluss. Gemeinsame Standardpa­piere von Unternehme­n wie Karl Storz und Aesculap, glaubt er, „das wäre vor 20 Jahren nicht möglich gewesen“.

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Foto: Dorothea Hecht Arbeit am Mikroskop: Chirurgiem­echanikerm­eister Harald Marusits (rechts) und der neue Eigentümer der Firma, Volker Schmid.
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50 Scheren – das bedeutet etwa eine Woche Arbeitszei­t.
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Am Ende muss die Schere den Schärfe-Test überstehen.

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