„Wild, wolllüstig, ungezügelt“
Die Burlesque-Show gibt sich in der Stadthalle alles andere als zurückhaltend
TUTTLINGEN – „Let’s Burlesque!“lautete das Motto am Freitagabend in der gut besuchten Stadthalle. Die Besucher erlebten 150 Minuten lang eine prickelnde Mischung aus Musik, Gesang, Äquilibristik und Enthüllungs-Szenen.
„Ihr seid das Publikum, wir machen die Show!“Hostess „Miss Evi“erklärte gleich zu Beginn die Regeln. Dass man zu applaudieren habe, wenn sie ihre dralle Schulter entblöße oder andere, für das Genre typische Signale aussende. Ihre Frage „Wisst Ihr eigentlich, was Burlesque ist?“stieß auf tiefes Schweigen. „Keine Antwort? – Das ist richtig!“rettete Evis Niessner die Situation und gab Nachhilfeunterricht: „wild, wolllüstig, ungezügelt“.
Sie stänkerte ein bisschen über TV-Stars wie Heidi Klum und präsentierte dann die „drei ungleichen Schwestern“, die mit ihrem Federtanz den ersten Jubel ernteten. Mit ihrer exaltierten Moderationen überforderte „Miss Evi“die Verstärkeranlage, überzeugte aber gesanglich durch ihre vier Oktaven umfassende Stimme: vom kindlich-unschuldigen Kieksen über Rockröhriges bis zum verruchten tiefen Alt.
Geografie dagegen scheint nicht so ihr Ding zu sein: Nicht nur, dass
„Tuttlingen ist ja irgendwie ein Dorf“, sagt die Berlinerin Miss Evi – obwohl sie schon mal hier war.
sie Tuttlingen mehrfach in den Schwarzwald versetzte, sie meinte auch, dass „Tuttlingen ja irgendwie ein Dorf“sei. Nun ja, aus Berliner Sicht vielleicht.
Dabei war Evi schon mal hier: 2016 erhielt sie mit ihrem Partner Mr. Leu alias „das Tier“den Sonderpreis der Jury der „Tuttlinger Krähe“. Welches Tier? Eine Mischung aus virilem Tastenhengst, Testosteron-geschwemmtem Alpha-Männchen, wild züngelnder Schlange und Vampir – im wahren Leben Rainer Leupold. Als er einen Turbo-Rap ablieferte oder Tom Waits‘ brutal-reale Version der „Waltzing Mathilda“sang, lauschten die Zuhörer hingerissen. Bei deren Zahl vertat sich Mr. Leu locker um den Faktor hundert, als er die „60 000 Besucher im Saal“begrüßte.
Auch bei der Auswahl der Bandmitglieder zeigte Niessner ein sicheres Händchen: Der gebürtige Kroate Robin „Dr. Jazz“Draganic spielte den Kontrabass ebenso souverän wie David Tröscher sein Schlagzeug bearbeitete. Sensationell war die Leistung von Ben Perkoff an Saxofonen verschiedener Stimmlagen und Querflöte. Der „King“, wie der 65-jähriger Kalifornier und Wahl-Berliner zurecht genannt wird, ließ seine Instrumente wiehern, röhren und gackern, dann wieder erzeugte er samtig schmelzende Töne. Mit seinem „Sexofon“umwarb er zunächst schamlos Miss Evi, um sich dann, umjubelt, zwei Blondinen im Saal zuzuwenden.
Bei den Striptease-Szenen – Tara La Luna als feuchter Traum jeden Pennälers, Erochica Bamboo, gekrönte Miss Exotic World des Jahres 2003, als Geisha und Coraline de Paris mit der Champagner-Dusche – hätte ein wenig mehr Choreografie nicht geschadet. Als Kreischgrund für die Damen im Saal diente der Pole Robert Choinka mit seiner ganz besonderen Art, mit Autoreifen umzugehen. Auch das Publikum wurde miteinbezogen und machte begeistert mit, etwas bei der ekstatischen Stöhnorgie. Gab es eine Zugabe? Na klar!