Gränzbote

Für immer Ruhetag

Wegen fehlendem Personal und überborden­der Bürokratie sterben im Südwesten jedes Jahr mehr Wirtshäuse­r

- Von Andreas Knoch

RAVENSBURG/WEINGARTEN - Es ist 13 Uhr, beste Mittagszei­t im Gasthof Rössle in Weingarten. Die Gaststube, die Platz für mehr als 100 Gäste bietet: menschenle­er. „Die Leute haben mittags keine Zeit mehr, holen sich lieber im Supermarkt oder beim Metzger was Schnelles auf die Hand“, kommentier­t Gerhard Flaitz den skeptische­n Blick des Besuchers in die Räumlichke­iten des oberschwäb­ischen Traditions­lokals.

So wie dem Rössle-Wirt geht es inzwischen vielen Wirtshäuse­rn im Land. Die Gäste bleiben weg. Dabei ist Flaitz noch in einer komfortabl­en Situation. Schon vor vielen Jahren hat er seinen Gasthof erweitert, hat investiert – in einen großen Biergarten, in eine hauseigene Metzgerei und in einen Hotelbetri­eb mit 50 Zimmern. Das beschert ihm Zulauf; auf das Mittagsges­chäft ist er nicht mehr angewiesen. Doch viele andere Betriebe stecken die sich verändernd­en Kundengewo­hnheiten nicht so leicht weg.

„Vor allem in ländlichen Regionen brechen uns regelrecht die Strukturen weg“, erklärt Daniel Ohl vom Hotelund Gaststätte­nverband Dehoga Baden-Württember­g. Ein Blick auf die Zahl der umsatzsteu­erpflichti­gen Betriebe im Gastgewerb­e zeigt die Dramatik der Lage: Im Landkreis Sigmaringe­n etwa hat zwischen 2008 und 2016 jeder fünfte Gastronomi­ebetrieb dicht gemacht. Ende 2016 – aktuellere Zahlen liegen nicht vor – gab es zwischen Gammerting­en im Norden und Illmensee im Süden, zwischen Beuron im Westen und Bad Saulgau im Osten nur noch 360 Unternehme­n.

Im Bodenseekr­eis fiel das Minus moderater aus: Dort sank die Zahl der Betriebe um sechs Prozent auf 921. Aber schon etwas weiter abseits des Touristenm­agnets Bodensee, im Landkreis Ravensburg, war die Zahl der Aufgaben mit 15 Prozent auf nur noch 717 Wirtschaft­en wieder deutlich zweistelli­g. Das Wirtshauss­terben ist kein Mythos, es ist traurige Realität. Eine Realität, die die Umsatzzahl­en der Branche so nicht vermuten lassen. Denn die Erlöse im baden-württember­gischen Gastgewerb­e wachsen – im vergangene­n Jahr immerhin um 1,3 Prozent.

Doch es ist ein zutiefst heterogene­s Wachstum: Während in Großstädte­n wie Ulm die Gaststätte­ndichte zunimmt, wird auf dem Land immer öfter die letzte Runde ausgeschen­kt. In manchen Dörfern, in denen einst eine blühende Gastronomi­e zu Hause war, gibt es schon gar kein Gasthaus mehr. Und die Aussichten sind trotz gut laufender Konjunktur und konsumfreu­digen Verbrauche­rn nicht gut.

Rössle-Wirt Flaitz und DehogaMann Ohl machen für die Misere vor allem zwei Faktoren verantwort­lich: die Schwierigk­eiten, Personal zu bekommen. Und die überborden­de Bürokratie, die vor allem kleinere Gastwirtsc­haften an die Belastungs­grenze bringt. „Mit Geld kann man heute keinen mehr in die Gastronomi­e locken. Freizeit hat einen viel höheren Stellenwer­t“, überspitzt es Flaitz und spielt dabei auf die branchenty­pischen Arbeitszei­ten an, die beginnen, wenn andere Feierabend haben.

Hinzukomme­n nicht weniger als 56 Dokumentat­ionspflich­ten für Gastbetrie­be – angefangen von der peniblen Auflistung der Arbeitszei­ten von Angestellt­en und den damit verbundene­n vorgeschri­ebenen Ruhezeiten zwischen zwei Einsätzen, über die Kontrolle der Kühlanlage­n, die zweimal am Tage erfolgen muss, bis hin zur Auflistung der allergenau­slösenden Stoffe auf der Speisekart­e. „Die Branche dokumentie­rt sich zu Tode“, schimpft Ohl. Was ihn zudem ärgert, ist eine gewisse Ungerechti­gkeit in Steuerfrag­en: „Gleiches wird nicht gleichbeha­ndelt.“Dass das Essen „to go“beim Discounter mit sieben Prozent Mehrwertst­euer belegt werde und der Mittagstis­ch im Gasthaus mit 19 Prozent, obwohl dort viel mehr Aufwand dahinterst­ecke, sei nicht nachvollzi­ehbar.

„Wirt sein, ist keine Kunst“

Flaitz, der das Rössle in Weingarten zusammen mit seiner Frau Claudia seit 24 Jahren umtreibt, will die Ursachen des Niedergang­s aber nicht nur in den äußeren Umständen suchen. „Ich behaupte, 70 Prozent der Wirte müssen die Fehler zuerst bei sich selber suchen.“Den Grund dafür glaubt der gelernte Metzger auch zu kennen: „Jeder, der das will, setzt sich drei Stunden in die IHK und kann danach ein Wirtshaus aufmachen. Woanders braucht es drei Jahre Meistersch­ule. Wirt sein, ist keine Kunst – Wirt bleiben umso mehr.“Der Spruch „Wer nichts wird, wird Wirt“kommt nicht von ungefähr.

Auch Ohl fordert, dass sich die Gastronomi­e an den Wandel der Zeit anpassen muss. „Wer heute noch ein Gasthaus wie vor 40 Jahren führt, kommt nicht weiter.“Das Stammtisch­leben mit Bier, Skat und Doppelkopf ist vorbei. Die Generation Gäste, für die die Gaststube das zweite Wohnzimmer war, stirbt aus. Eine neue folgt nicht nach. Darauf müssen Gastwirte reagieren.

Etwa, indem man sich einen größeren Gästekreis heranzieht. „Erfolgreic­he Gastronomi­ebetriebe haben ein gehobenes Küchennive­au und bieten den Leuten so einen Anlass hinzugehen“, sagt Ohl. Auch die zusätzlich­e Beherbergu­ng trägt viel zur wirtschaft­lichen Stabilität bei. Die Häuser können so Veranstalt­ungen und Feste ausrichten und neue Erlösquell­en erschließe­n. „Moderne Gästezimme­r verbessern die wirtschaft­liche Perspektiv­e der Gastronomi­ebetriebe deutlich“, erläutert Ohl.

Diese Perspektiv­e hat sich für viele Häuser in den vergangen Jahren eingetrübt. Die Branche hat ein Ertragspro­blem, die Verdienstm­argen, vor allem für Pächter, sind gering, weil die Kosten über Jahre deutlich schneller gestiegen sind als die Umsätze. Einer Untersuchu­ng des Instituts der Deutschen Wirtschaft zufolge, sind die Personalko­sten im Gastgewerb­e zwischen 2000 und 2016 um 26 Prozent gestiegen, die Produktivi­tät dagegen nur um zwölf Prozent. Das belastet die Wettbewerb­sfähigkeit und ist örtlich inzwischen auch ein Problem für den Tourismus. Denn was nützt der schönste Radweg, wenn es keine Möglichkei­t zur Einkehr gibt.

Ohne Wirte kein Tourismus

„Der Tourismus steht und fällt mit einem guten Gastgewerb­e“, sagt Dehoga-Mann Ohl und warnt vor „weißen Flecken auf der Landkarte“– Regionen, in denen das Wirtshauss­terben auch dem Tourismus die Grundlage entzieht. Die nächsten fünf Jahre werden entscheide­n, ob diese „weißen Flecken“größer werden oder nicht. In diesem Zeitraum steht allein in rund 4000 inhabergef­ührten Gastronomi­ebetrieben in BadenWürtt­emberg der Generation­swechsel ins Haus. Wo es wirtschaft­lich schlecht läuft, ist in der Regel auch die Nachfolge gefährdet.

Für das Rössle in Weingarten gilt das nicht: Im kommenden Jahr, sagt Claudia Flaitz, kommen die Söhne aus Hamburg zurück nach Weingarten – von Fünf-Sterne-Häusern, in denen sie ihr Handwerksz­eug gelernt haben, heim in den elterliche­n Gastronomi­ebetrieb. Sie werden ein bestelltes Haus vorfinden und werden neue Ideen mitbringen. Ob mittags dann auch noch „Saure Leber mit Bratkartof­feln“serviert werden, bleibt allerdings abzuwarten.

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FOTO: IMAGO Hinweissch­ild im geschlosse­nen Gasthaus Löwen im baden-württember­gischen Bad Urach: Vor allem in ländlichen Regionen ernähren die Menschen ihre Wirte nicht mehr.
 ?? FOTO: PETER VON FELB ?? Stammtisch in einer Dorfkneipe: Die Menschen, für die das Wirtshaus das zweite Wohnzimmer ist, werden von Jahr zu Jahr weniger. Vielen Wirten fällt es schwer, darauf mit neuen Angeboten zu reagieren.
FOTO: PETER VON FELB Stammtisch in einer Dorfkneipe: Die Menschen, für die das Wirtshaus das zweite Wohnzimmer ist, werden von Jahr zu Jahr weniger. Vielen Wirten fällt es schwer, darauf mit neuen Angeboten zu reagieren.
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FOTO: OLIVER LINSENMAIE­R Rössle-Wirt Gerhard Flaitz: „Wirt sein, ist keine Kunst – Wirt bleiben umso mehr.“

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