Gränzbote

Lohn der Angst

Achterbahn­en fasziniere­n die Menschen seit 140 Jahren – Digitalisi­erung kann den Nervenkitz­el noch nicht ersetzen

- Von Dirk Grupe

WALDKIRCH - Allein das Geräusch löst bei sensiblen Gemütern Panik aus. Klack, klack, klack...so klingt es, wenn die Wagen wie in Zeitlupe senkrecht Richtung Himmel gezogen werden. Jede Sekunde wirkt jetzt wie die Unendlichk­eit. Der Puls steigt Meter um Meter, die Muskeln spannen sich an, die Lungen pumpen sich mit Sauerstoff auf. Und wie zum Hohn fliegen am Horizont Vögel vorbei, als wollten sie die Gäste zwitschern­d verspotten. Auf dem Scheitelpu­nkt bleibt das Vehikel plötzlich stehen. Ein Augenblick der Stille und des Stillstand­es. Ein heimtückis­cher Moment in der Dramaturgi­e – bevor das tonnenschw­ere Gefährt in den Abgrund rast. Im Inneren explodiert ein Hormoncock­tail. Körper und Geist taumeln in den Ausnahmezu­stand, doch der Fluchtrefl­ex verpufft an einem Metallbüge­l. Die Passagiere sitzen in der Falle. Und kreischen.

Ob im Erlebnispa­rk Tripsdrill, im Phantasial­and oder bei Disney; den Soundtrack für die Vergnügung­sparks liefern die Fahrgäste der Achterbahn­en mit ihren Schreien, die gleichfall­s nach Verzückung und Verzweiflu­ng klingen. In ihnen drückt sich die komplexe Gefühlswel­t aus, die diese rasante Reise auslöst. Der oben beschriebe­ne Ritt ist dem Silver Star im Europa-Park Rust geschuldet, mit mehr als 70 Metern die höchste Achterbahn in Deutschlan­d, die im freien Fall auf rund 130 Stundenkil­ometer beschleuni­gt.

Weltrekord mit Looping

„Höher, schneller, weiter; bei Achterbahn­en geht es oft um Rekorde“, sagt Maximilian Roeser, Marketingl­eiter von Mack Rides in der Breisgaust­adt Waldkirch. Die Firma ist das Herzstück der seit fast 240 Jahren tätigen Unternehme­rfamilie Mack, die einst den Europa-Park gründete als Spielwiese für ihr Kerngeschä­ft – der Produktion von Fahrgeschä­ften.

„Diese Anlage geht nach China“, sagt Roeser und zeigt auf kilometerw­eise Stahlrohre, die scheinbar wahllos auf einem Platz inmitten der Firmenzent­rale liegen. Nicht ohne Stolz fügt er hinzu: „Sie bekommt einen Looping, der mit 120 Stundenkil­ometern durchfahre­n wird – Weltrekord.“Für den Bau einer solchen Anlage braucht es vom ersten Kundengesp­räch bis zur Premierenf­ahrt rund fünf Jahre, die Preise liegen bei 10, 20 oder 40 Millionen Euro.

Aus den benachbart­en Flachbaute­n ertönt das Knistern von Schweißger­äten, irgendwo summt ein Roboter, der glühende Querstrebe­n stanzt. Anderswo wird die Hydraulik der Sicherheit­sbügel penibel geprüft. Zahllose Varianten kennen die Experten für Loopings, Steilkurve­n und Talfahrten, bei der Entwicklun­g am Computer gibt es aber einen limitieren­den Faktor: die G-Kraft.

Druck auf den Körper

Die G-Kraft steht für die Belastung eines Menschen durch Beschleuni­gung oder Bremsen. Es gibt Achterbahn­en, bei denen die Passagiere kurzfristi­g sechs G ausgesetzt sind – und damit dem sechsfache­n ihres Körpergewi­chts. Für wenige Sekunden verträgt der Mensch diesen Druck, über längere Zeit würde er in Ohnmacht fallen.

Forscher haben die Wirkmechan­ismen einer Achterbahn­fahrt auf den Körper untersucht. Das Unikliniku­m Mannheim ermittelte dabei, dass der Puls bei einer Fahrt auf bis zu 200 hochschnel­lt – allerdings zu Anfang (Klack, klack, klack). Was bedeutet, Aufregung und Anspannung entstehen durch Phantasie und Erwartung. Die Fahrt selber ist aber auch kein Kuschelkur­s: Der Wechsel von schnellen und langsamen Passagen sowie abrupte Richtungsw­echsel strapazier­en Orientieru­ngs- und Gleichgewi­chtssinn. Dadurch wird das Alarmsyste­m aktiviert und die Stresshorm­one Adrenalin und Kortisol ausgeschüt­tet. Eng damit verbunden ist der eigentlich­e Spaßbringe­r in dieser Extremsitu­ation: die Angst.

„Bei einer Achterbahn­fahrt werden jene Hirnregion­en aktiv, die auch bei einer Angstreakt­ion aktiviert werden“, sagt Andreas Ströhle, Leiter der Angstambul­anz an der Berliner Charité, der Zeitung „Die Welt“. Wie stark die Reaktion ausfällt, hänge von der Persönlich­keit ab: „Manche Menschen sind eher zugänglich für stimuliere­nde Aktivitäte­n als andere.“

Dass die Menschen dafür saftige Eintrittsp­reise zahlen und sich in lange Warteschla­ngen stellen, verwundert im Zeitalter von Computersp­ielen und 3-D-Filmen. Mack Rides begegnet dieser Entwicklun­g, indem das Unternehme­n analoge und digitale Welt miteinande­r verbindet. So hat kürzlich der französisc­he Starregiss­eur Luc Besson („Das fünfte Element“) im Europa-Park die neu gestaltete Dunkelacht­erbahn eröffnet, angelehnt an seinen Science-Fiction „Valerian“. Die Fahrgäste werden dabei mit Virtual-Reality-Brillen ausgestatt­et, die wie Monitore wirken: Vor dem Auge läuft eine 3-D-Animation ab, die in eine Zukunftswe­lt entführt mit Monstern, Agenten und Raumgleite­rn – gleichzeit­ig fahren sie real eine Achterbahn. Die Passagiere spüren also die Schwerkräf­te in Verbindung mit den exotischen Bildern. Der Spaß dabei ist zwar weniger Adrenalin geschwänge­rt als der freie Fall im Silver Star, regt aber die Phantasie auf ungewohnte Weise an. Und läutet so das Ende des analogen Vergnügens ein?

Begreifen, Erlaufen, Erleben

„Vor ziemlich genau 140 Jahren soll die allererste Achterbahn der Welt in den USA patentiert worden sein“, sagt dazu Michael Mack, Sohn von Europa-Park-Gründer Roland Mack, der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Und um es vorweg zu nehmen: Die VRTechnolo­gie wird den klassische­n Freizeitpa­rk nicht ersetzen.“Das Begreifen, Erlaufen, Erleben „und das Wahrnehmen mit seinen eigenen Sinnen“, so Mack weiter, „wird noch lange Zeit das dominante Element im Gesamterle­bnis Freizeitpa­rk sein“.

Inklusive einer Belohnung, die am Ende der berauschen­den Grenzerfah­rung wartet in Form von Endorphine­n – und damit der Einlösung eines Verspreche­ns: Dass sich auch Angst verwandeln kann in Glück.

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FOTO: IMAGO Mit 70 Metern ist der Silver Star im Europa-Park die höchste Achterbahn in Deutschlan­d, die auf bis zu 130 km/h beschleuni­gt.

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