Litauen mag den Euro lieber als den Rubel
Das kleine Land im Baltikum ist ein strategisch wichtiger Punkt sowohl für die Nato als auch für Russland
RAVENSBURG - Seit der russischen Annexion der Krim fürchten sich mittel- und osteuropäische Länder vor dem großen Nachbarn im Osten. Auch Litauen misstraut dem KremlChef Wladimir Putin. Denn die Lage des Landes an der Nato-Ostflanke ist strategisch wichtig – und könnte bei einer Auseinandersetzung Ausgangspunkt eines großen Konfliktes werden.
„Russland ist für Litauen eine
Frage der Existenz, eine historisch gewachsene Bedrohung“, erklärt Kai-Olaf Lang, Baltikumexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik. Nach den Ereignissen in der Ostukraine und auf der Halbinsel Krim nahmen auch in Litauen die Sorgen zu. Putin hatte in der Ukraine – jedoch niemals offiziell – pro-russische Separatisten unterstützt, auch mit eigenen Truppen.
In Litauen wäre eine wie auch immer geartete militärische Intervention für Putin auf den ersten Blick ein Leichtes. Im Westen grenzt Litauen an die mit Streitkräften und modernen Waffensystemen ausgestattete russische Enklave Kaliningrad, im Osten an das verbündete Weißrussland. Dazwischen liegt der sogenannte Suwalki-Korridor, benannt nach einer polnischen Stadt an der Grenze. Dieser ist gut 100 Kilometer lang. „Das ist die einzige Landverbindung zu einem anderen Nato-Partner. Sie kann relativ leicht dichtgemacht werden“, erklärt Lang. „Die Hilfe durch befreundete Truppen könnte dadurch erschwert werden.“
Zur Abschreckung hat das NatoBündnis daher gut 1000 Soldaten in Litauen stationiert. Deutschland ist in dem Land die sogenannte Rahmennation, stellt also das Gros dieser Einheiten, die halbjährlich ausgewechselt werden. Die multinationale Truppe stand zuletzt unter der Führung des Jägerbataillons 292 aus Donaueschingen.
Aber: Im Falle einer bewaffneten Auseinandersetzung könnten diese als „Stolperdraht“gedachten Verbände nur wenig ausrichten, denn „Russland hat in der Region militärisch die Oberhand“, sagt Lang. Entscheidend für eine effektive Verteidigung sei daher eine rasche Verlegung von schnellen Reaktionskräften aus anderen Teilen der Allianz. Die vor Ort stationierten Nato-Einheiten hätten aber eine wichtige politische Funktion. Er vergleicht Litauen mit West-Berlin zu Zeiten des Kalten Krieges: „Franzosen, Amerikaner und Engländer waren dort auch präsent, militärisch hätten sie keine Chance gehabt. Allein durch ihre Anwesenheit war die große Sowjetunion jedoch vorsichtig, da im Falle eines Falles ein direkter Konflikt mit den Westmächten entstanden wäre.“
Keiner will sich abspalten
Daher: „Eine offene Feldschlacht ist sehr unwahrscheinlich, natürlich steht keine russische Panzerinvasion bevor“, betont Lang. Die Voraussetzungen in Litauen seien außerdem andere als in der Ostukraine oder auf der Krim. Es gebe dort niemanden, der sich vom Land abspalten und sich Russland anschließen wollen würde. Allein schon deswegen, weil es – anders als in Lettland und Estland – auch keine größeren russischen Minderheiten gibt. Selbst dort gelte aber: „Die Menschen wollen lieber den Euro als den Rubel und sie wollen auch nicht in ein russisches Krankenhaus.“In Litauen achte man daher vor allem auf sogenannte „hybride“Risiken. Dazu gehören punktuelle Grenzverletzungen, Desinformationspolitik, Cyberattacken und andere Formen der Destabilisierung, eventuell in Kombination mit niedrigschwelligen militärischen Aktivitäten.
Daher richtet Litauen seit dem Zerfall der Sowjetunion seinen Blick nach Westen. „Das ganze Narrativ nach 1991 war: ,Wir gehören zum Westen und zu Europa, nicht zum Osten’.“
Eine der größten Herausforderungen für das katholische Land ist die Demografie. „Litauen hat durch Auswanderung einen unglaublichen Aderlass zu verkraften“, sagt Lang. 3,7 Millionen Einwohner seien es bei Erklärung der Unabhängigkeit gewesen, heute sind es noch 2,9 Millionen. Viele Jüngere und besser Gebildete seien gegangen, unter anderem nach Großbritannien, Skandinavien oder Deutschland. Bis auf einige wenige Regionen, wie beispielsweise jene um die Hauptstadt Vilnius herum, seien viele Gegenden in Litauen immer dünner besiedelt. „Wenn die weiter ausbluten, wird das nicht nur zu einem wirtschaftlichen, sondern auch zu einem sicherheitspolitischen Problem“, sagt Baltikumexperte Lang.