Keine Vision, kein Vermächtnis
Niemand hatte es erwartet, nur wenige hatten es noch erhofft: Dass Angela Merkel ihre Rede vor dem Europaparlament für einen großen Auftritt nutzen würde, für Visionen, für klare Antworten, wie das Europa von morgen aussehen soll. Es soll eine gemeinsame Armee haben – mit diesem Wunsch sprang sie Frankreichs Präsident Macron zur Seite, der wegen seines Vorhabens scharf von US-Präsident Trump angegriffen wird. Auf Amerika ist kein Verlass mehr, das sagte mehr oder weniger verklausuliert auch Merkel.
Darüber hinaus aber blieb die dienstälteste und erfahrenste Regierungschefin Europas Antworten schuldig. Sie beschwört die Kühnheit des europäischen Projekts, ohne selbst kühn zu sein. Sicher, Kühnheit ist schwierig in der jetzigen Lage Europas, die von Alexander Graf Lambsdorff treffend mit „Polen fällt aus, Großbritannien tritt aus, Italien rastet aus“beschrieben wird.
Und auch im Europaparlament zeigt sich die Unruhe. Die Rechten buhen die Kanzlerin aus. Nigel Farage dankt ihr zynisch, dass sie den Brexit möglich gemacht hat.
Doch Merkel ist – immer noch – ein Machtzentrum in Europa. Es gibt angesichts der Herausforderungen immer noch den Wunsch, dass sie die Europapolitik vorantreibt. Zumal die deutsche Politik in den letzten zwei Jahren wie gelähmt war, zunächst durch den Wahlkampf, dann durch die zähe Regierungsbildung, jetzt durch die nicht gelösten Nachfolgefragen. Die deutsche Schwäche in einer Zeit, in der Europa auseinanderzufallen droht, ist fatal. Doch es scheint, dass Merkel dem Wunsch, Deutschland europapolitisch wieder aufs Gleis zu setzen, nicht entsprechen wird. Ihr fehlt die Kraft.
Sie hat nichts Konkretes bei den Fragen Klimaschutz und Steuern, Euro und Migration gesagt, sondern sie hat die großen Werte der EU unterstrichen, die Solidarität als Teil der europäischen DNA gepriesen. Insofern war ihre Rede zwar ein Schulterschluss mit dem sehr viel energischeren Macron, aber keine eigene Vision, und schon gar kein Vermächtnis.